PRO: 2. Runde Jochen Spengler

"Mehr Macht, das heißt keineswegs weniger Demokratie"

"Brüssel" ist weder unantastbar noch fehlerfrei; aber wer es einmal näher kennen gelernt hat, der kann Vorwürfe, es agierten "machtgierige Eurokraten" oder "Kommissare, die demokratisch gewählten Regierungen Weisungen erteilen" ebenso wenig nachvollziehen wie Beobachtungen, die europäische Vielfalt würde erodieren und nach unten nivelliert.

Mehr Macht für Brüssel? Es ist ein offenbar weit verbreitetes Missverständnis, dass dies mehr Macht für Eurokraten bedeute.  "Brüssel" ist ein Synonym; es steht für die Gemeinschaft. Die  Grundsatzfrage lautet daher: Mehr Macht für die Union der Staaten und Bürger oder mehr Macht für den einzelnen Nationalstaat?

Ich bleibe dabei: Probleme, die nur grenzübergreifend zu lösen sind, sollten von der Zentralgewalt, der EU, angepackt werden: Energieversorgung, Verbrechens- und Terrorabwehr, Lkw-Verkehr, die meisten Steuerfragen. Der Klimawandel ist nicht aufzuhalten, wenn jeder Staat für sich handelt.

Mehr Macht für Brüssel? Davor braucht sich niemand zu fürchten - das lehrt die Wirklichkeit. Denn die EU ist gerade dort am erfolgreichsten, wo sie heute schon mehr zu sagen hat als der einzelne Mitgliedsstaat: Wettbewerbspolitik und Binnenmarkt haben die Union groß und wohlhabend gemacht. Ein Trauerspiel bietet die Union dagegen dort, wo ihre Politik nicht "vergemeinschaftet" ist; wo eben nicht die Kommission, die dem Gesamtinteresse verpflichtet ist, Gesetze vorschlägt und diese vom Ministerrat der 27 Regierungen und dem demokratisch gewählten Europaparlament verabschiedet werden. Deswegen hapert es bis heute an der gemeinsamen Polizeiarbeit und in der Außenpolitik. Dort hat Brüssel nicht zu viel, sondern zu wenig Macht. Mehr Macht - das heißt keineswegs: weniger Demokratie. Jedenfalls dann nicht, wenn die Rechte des Europaparlaments weiter ausgebaut werden.

Thesen 1. Runde: Mehr Macht für Brüssel?

spengler21_01.jpgDer ehemalige Deutschlandfunk-Korrespondent in Brüssel arbeitet heute als Zeitfunk-Redakteur des Kölner Informationssenders.
CONTRA: 2. Runde Heribert Prantl

"Europa braucht die richtige Macht"

Wir quälen uns vielleicht an der falschen Frage ab. Wenn wir die Ausgangsfrage anders stellen, finden wir mehr Einigkeit – und mehr Europa. Die Frage lautet nämlich nicht „Mehr oder weniger Macht für Brüssel?“, sondern „Welche Macht für Brüssel?“.

Die Aufgaben sind falsch verteilt. In den USA trägt die Zentralregierung die Verantwortung für die Aufgaben, die nach allgemeinem Konsens Bundesaufgabe sein müssen – zum Beispiel für die Außenpolitik oder für die Verteidigungspolitik. In allen anderen Angelegenheiten haben die Einzelstaaten weitgehende Autonomie.

In Europa ist es leider umgekehrt. Brüssel regelt unendlich viele Details – und die Aufgaben, die eigentlich Gemeinschaftsaufgaben sein müssten, die sind Aufgaben der Einzelstaaten geblieben. Die Zusammenarbeit ist hier nicht über einige erste Ansätze hinausgekommen. Deshalb steht Europa so da, wie der Schiefe Turm von Pisa – prächtig, einmalig, aber doch einsturzgefährdet.

Die europäische Einigung war und ist das wichtigste europäische Modernisierungsprojekt seit den napoleonischen Reformen vor 200 Jahren, ja sie ist ein weltgeschichtlich einmaliger Pazifierungsprozess.

Die EU ist der größte Markt, der größte Exporteur, der größte Auslandsinvestor der Welt. Die EU ist der vielfältigste und vielgestaltigste Raum dieser Erde. Europa hat unendlich viel – und es braucht noch unendlich viel: Es braucht eine klare, einsichtige Aufgabenverteilung zwischen der Zentrale in Brüssel und den Mitgliedsstaaten, es braucht die Domestizierung der Nationalismen und es braucht eine gute und kluge demokratische Fundierung der Brüsseler Zentralgewalt.

Brüssel braucht, im Interesse Europas, Macht – aber die richtige Macht, für die richtigen, für die zentralen Aufgaben.

Thesen 1. Runde: Mehr Macht für Brüssel?

PrantlSZ4_01.jpgDer Autor ist Ressortleiter Innenpolitik der "Süddeutschen Zeitung".

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Frankreich und EU (0) leser1 (Pseudonym), 02.03.2008 - 11.22 Uhr
Satter Nachschlag für... (0) Waskow (Pseudonym), 24.12.2007 - 10.59 Uhr
DIE EXPERTEN (0) Waskow (Pseudonym), 20.11.2007 - 09.38 Uhr