Braucht die EU eine Verfassung?


24.01.2007 - 23.49 Uhr

"Braucht die Erde eine Atmosphäre?"

J.J.Myers (Pseudonym)

Einige meiner Vorposter haben es schon erwähnt; es sollte jedoch noch häufiger gesagt werden:
Die Frage ist nicht, OB die EU eine Verfassung braucht, sondern WELCHE Verfassung sie denn benötigt, wenn ihre Bürger eine politische Union ihrer jeweiligen Staaten wünschen.

Dazu einige Zitate mit Kommentaren:

> Artikel 2: Die Werte der Union

> Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde,
> Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der
> Menschenrechte; diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft
> gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und
> Nichtdiskriminierung auszeichnet.

Wie passt das zu:

> Artikel 4: Grundfreiheiten und Nichtdiskriminierung

> (1) Der freie Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr sowie die
> Niederlassungsfreiheit werden innerhalb der Union und von der Union gemäß der
> Verfassung gewährleistet.

Damit erhält das Sozial-, Umwelt- und Steuerdumping Verfassungsrang, sofern es nicht von weiteren, gleich priorisierten Artikeln verhindert wird. Dies ist jedoch nicht der Fall.

> (2) Unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verfassung ist in ihrem
> Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit
> verboten.

Das Verbot der Nichtdiskriminierung ist sehr hoch einzuschätzen. Jedoch ist die Staatsangehörigkeit nur ein (minderer) Grund zur Diskriminierung unter vielen. Wo sind die anderen erwähnt? - Oder geht es vielleicht gar nicht um Vorstellungsgespräche, sondern lediglich um Ausschreibungen, auf die sich auch der bewerben können soll, der jeglichen Arbeitsschutz, Sozialstandard und Umweltschutz vermissen lässt - Hauptsache, er ist der Billigste?


> Artikel 7: Grundrechte

> (2) Die Union strebt den Beitritt zur Europäischen Konvention zum Schutze der
> Menschenrechte und Grundfreiheiten an. Der Beitritt zu dieser Konvention ändert
> nicht die in der Verfassung festgelegten Zuständigkeiten der Union.

Das "Streben" reicht m.E. nicht; es kann recht lange dauern, wie sich auch anhand der
"Staatsziele" im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ersehen lässt. Wäre nicht der Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention und, nebenbei, auch zur Flüchtlingskonvention, ein essentieller Bestandteil eines humanen, freien Europa?


> Artikel 40: Besondere Bestimmungen für die Durchführung der Gemeinsamen
> Sicherheits- und Verteidigungspolitik

> Die Mitgliedstaaten stellen der Union für die Umsetzung der Gemeinsamen
> Sicherheits- und Verteidigungspolitik zivile und militärische Fähigkeiten als Beitrag
> zur Verwirklichung der vom Ministerrat festgelegten Ziele zur Verfügung. Die
> Mitgliedstaaten, die untereinander multinationale Streitkräfte bilden, können diese
> auch für die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik zur Verfügung
> stellen. [!!] Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten
> schrittweise zu verbessern. Es wird ein Europäisches Amt für Rüstung, Forschung
> und militärische Fähigkeiten eingerichtet, dessen Aufgabe es ist, den operativen
> Bedarf zu ermitteln und Maßnahmen zur Bedarfsdeckung zu fördern, zur Ermittlung
> von Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Grundlage des
> Verteidigungssektors beizutragen und diese Maßnahmen gegebenenfalls
> durchzuführen, sich an der Festlegung einer europäischen Politik im Bereich
> Fähigkeiten und Rüstung zu beteiligen sowie den Ministerrat bei der Beurteilung der
> Verbesserung der militärischen Fähigkeiten zu unterstützen.[!!]

Nein, ich bin kein Pazifist. Dennoch würde ich es vorziehen, die Mitgliedsstaaten der EU könnten auf ein gemeinsames Engagement auf dem Verteidigungs- und "Sicherheits"-Sektor ggf. verzichten oder ihre Weiterrüstung nicht betreiben. In einer Verfassung ist dieser Artikel geradezu Wahnsinn: Auch, wenn ggf. militärisches Engagement sinnvoll erscheint - warum sollte man das in den Rang eines verfassungsmäßigen Gebots erheben??

> Artikel III-69
> (1) Die Tätigkeit der Mitgliedstaaten und der Union im Sinne des Artikels I-3 umfasst
> nach Maßgabe der Verfassung die Einführung einer Wirtschaftspolitik, die auf einer
> engen Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, dem Binnenmarkt
> und der Festlegung gemeinsamer Ziele beruht und dem Grundsatz einer offenen
> Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist.

Ich denke, die Auswahl des Wirtschaftssystems hat in einer Verfassung nichts zu suchen - schon gar nicht dann, wenn eine SOZIALE Marktwirtschaft zwar als "Ziel" definiert wird (Artikel 3), der (vermutlich permanente) modus operandi jedoch eine "offene Marktwirtschaft" ist - bewehrt mit dem ausdrücklichen Verbot, "Handelshemmnisse" in Gestalt von Umwelt-, Sozial- oder Steuer-Standards einzuführen.
...

Die Liste kann fast beliebig verlängert werden - dem Mammut-Text sei's gedankt. Ich fühlte mich wohler mit einer "bill of rights" nach US-Vorbild oder einem kurzen und bündigen Text, der Rechte und Pflichten grob (im Einzelfall auch detailliert wie das Grundgesetz) umreißt und die Wirtschafts-, Finanz- und Außenpolitik, so lange es nicht um deren allgemeine Verpflichtungen geht, durch Richtlinien regeln lässt, die keinen Verfassungrang besitzen.

Diese "Verfassung" würfe uns um Jahrzehnte zurück. Ich kann jedem, aber absolut jedem Bürger der EU nur dringend empfehlen, sie sorgfältig zu lesen und zu versuchen, ab und zu zwischen die Zeilen zu schauen. Das Dokument ist auf deutsch unter

http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00850de03.pdf

erhältlich!




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