Braucht die EU eine Verfassung?


24.03.2007 - 11.57 Uhr

Vor der Verfassung eine Identität

engeldinger (Pseudonym)

Ob die Europäische Union eine Verfassung unter dem Titel "Verfassung" bekommen wird oder nicht, ist nicht von Bedeutung. Zum jetzigen Zeitpunkt scheint es so, dass vor allem das Wort "Verfassung" Probleme bereitet. Nach herrschendem Verständnis kann sich nur eine Nation eine Verfassung geben. Europa gründet sich weder auf eine Nation, noch ist die Union ein Staat. Vor einer klassischen Verfassung müssten die Europäer also eine Identität ausbilden, die vor der nationalen Identität stehen müste. Leider scheinen die meisten Europäer von einer gemeinsamen Identität, einer Öffentlichkeit, von der Wertegemeinschaft mit einem Wissenskanon, gemeinsamen Schulbüchern (oder einer Auswahl mölglicher gemeinsamer Bücher) weit entfernt. Offenheit, Wissen, Neugierde, Empathie sind unabdingbar. Es wird stärker als bisher notwendig sein, sich in den Nachbarn hineinzuversetzen und ein Problem aus seiner Sicht zu sehen, dessen Interesse und sein eigenes abwägen (und dies bei 27 Mitgliedern). Dies ist nicht einfach. Im Augenblick scheinen die vermeintlichen Nationalinteressen wieder zu überwiegen. Ehrlicherweise müsste auch offen gesagt werden, dass die EU ein Instrument ist, um friedlich und durch Austausch einen Kompromiss zwischen den weiter bestehenden Egoismen zu finden. Wirkliche Europäer müssten die Interessen der anderen als die eigenen erkennen und "Interessen" neu definieren. Dazu ist alles andere als die meist herrschende Nabelschau, das verbreitete Nicht-Wissen und die sprachliche Einseitigkeit notwendig.

Viele Studierende, vermutlich vor allem Deutsche, haben eine solche Identität - nach ihren Studienaufenthalten in Europa und ausserhalb, wo sie die Unterschiede zwischen Europa und anderen Kontinenten kennengelernt haben, durch das Leben in Grenzregionen oder Grossstädten, nach einem Praktikum in einer europäischen Institution. Später verstärkt vielleicht der europäische Alltag im Berufsleben dieses Gefühl. In jedem Fall sollten in allen Staaten Kinder mit 5 Jahren mit der ersten Fremdsprache beginnen, mindestens dreisprachig sein, Austausch auf jeder Ebene und auf jede Art gefördert werden, die Vermischung und das Kennenlernen normal werden.
Die Bildungspolitik Luxemburgs, das kleine Grossherzogtum, sollte Vorbild für ganz Europa werden.

In den Sendungen des Deutschlandfunks hört man, dass vor allem Briten sich nicht als Europäer fühlen und viele Inselbewohner eine andere Union möchten als die meisten Kontinentaleuropäer. Auch die polnische und die tschechische Regierung scheinen eine seltsame nationalistische Position in Bezug zu Europa zu vertreten, anders, so bin ich überzeugt, als ihre Bevölkerungen. Das mahnende Wort des luxemburgischen Premierministers an die polnische Regierung ist zu begrüssen. Die europäische Union sollte angesichts der Pläne des polnischen Erziehungsministers, der dem ältesten Ministerium dieser Art in Europa vorsteht und ihm durch seine Diskriminierungspläne in Bezug auf Minderheiten und seinem Land Schande bereitet, mahnen und die härtesten Konsequenzen androhen.

Natürlich besteht europäische Politik nicht aus Mahnungen und Drohungen, aber es sollte ein Mechanismus gefunden werden, der den Bruch des aquis communautaire sanktionniert. Vielleicht benötigt man dafür einen weiteren institutionellen Baustein, oder Parlament bzw. Kommission - obwohl bereits überlastet - müssten diese Aufgabe nicht nur hinsichtlich der Wettbewerbspolitik, sondern auch hinsichtlich der gemeinsamen Werte und Überzeugungen (und diese müssen hier von der MEHRHEIT formuliert werden).

Ich bezweifele, dass eine von einem Konvent erarbeitete Verfassung Iren, Finnen, Portugiesen, Griechen, Deutsche, Franzosen, Tschechen, Polen, Esten und die anderen stärker zusammenwachsen lässt, dabei hilft, dass sie sich füreinander interessieren, sie neugierig macht aufeinander. (Wer hat erklärt, dass dieses Wort von französisch "convention" kommt und mit der französischen Geschichte zusamenhängt, dass auf englisch eine "convention" ein Parteitag oder eine Versammlung ist? Hier bereits muss man ansetzen, um die vermeintliche Fremdheit aufzuheben. Kosmetik, wie die Sendung "Europa heute" um 16 Uhr im ZDF, also zu einer Zeit , zu der der Normalbürger nicht fernsieht, sind wenig hilfreich. Eine Sendung wie "Europa heute" sollte dagegen um 19 Uhr 15 täglich gesendet werden, nicht um 9 Uhr 15. Auch die Geschichte der wirklichen europäischen Ideen, die spätesten 1848 einsetzen muss, muss gelehrt, das Bewusstsein für deren Existenz, wenn auch mit Rückschlägen, muss vermittelt werden).

Europa braucht auch eine ständige Grundsympathie, eine Gelassenheit gegenüber Rückschlägen und in Perioden populistisch-nationalistischer Politik, wie wir sie gegenwärtig von der Seite der polnischen Regierung erleben. Europa muss zu jedem Zeitpunkt und auf jeder Ebene zum Thema der öffentlichen Diskussion werden. Das Ziel, grössere Zustimmug, eine gemeinsame Identität, stärkerer Austausch, lohnt jedoch jede Anstrengung.

Wolfgang Daniel Engeldinger, DAAD-Lektor (Rennes, Frankreich)




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