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Braucht Europa Grenzen?


29.01.2007 - 10.45 Uhr

Bürger, Identität, Grenzen

Karl-Heinz Schwalbe

Bei den öffentlich wahrnehmbaren Diskussionen über die Zukunft von Europa wird ein wesentlicher Punkt stets ausgeblendet: Diese Diskussionen werden von Strategen für einen sehr eng begrenzten Personenkreis geführt, der in der Lage ist, die Sprache und die abstrakten Argumentationen zu verstehen, der „einfache Bürger“ wird gar nicht angesprochen. Aber ohne Unterstützung durch die Basis wird Europa auf Dauer nicht lebensfähig sein, ergo: Die Menschen müssen mitgenommen werden.

Europa muss die Menschen mitnehmen.
1. Keine Beschränkung auf Wirtschaft (so wichtig diese ist), aber diese wird – wie in den Nationalstaaten – als nicht den Menschen dienlich wahrgenommen. Merke: Individuelle Wahrnehmung ist nicht identisch mit realem Geschehen.
Durch Setzung von sozialen Mindeststandards muss den Menschen eine gewisse Sicherheit gegen Globalisierungsängste garantiert werden.
2. Politik wird nicht erklärt, sie findet in einem abstrakten Raum statt, dessen Regeln und Mechanismen für den Normalbürger undurchsichtig sind. Auch dies gilt für die Politik in den Einzelstaaten. Vor wichtigen Entscheidungen muss den Bürgern in verständlicher Sprache erklärt werden, welches Problem zu lösen ist und wie mögliche Lösungen aussehen; sodann ist zu begründen, warum man sich für einen bestimmten Lösungsweg entscheidet. In Deutschland würde ich mir wünschen, dass der Bundeskanzler/die Bundeskanzlerin bei schwierigen Entscheidungen eine kurze und verständliche Rede an die Nation hält, um den Bürgern klar zu machen, worum es geht; diese wichtige Aufgabe darf man keineswegs den Medien überlassen, die allzu oft ihre eigenen Interessen vertreten.
3. Der Bürger braucht ein „Europagefühl“, das ihm vermittelt, was der Mehrwert von Europa für ihn bedeutet. Es muss auch deutlich gemacht werden, dass die Zugehörigkeit zur europäischen Union nicht zum Verlust der nationalen Wurzeln führt. (Persönliche Anmerkung: Wenn ich mich im außereuropäischen Ausland aufhalte, stelle ich mich nach der Frage nach dem Woher als von Europa kommend vor; erst wenn weitergefragt wird, dann gebe ich meine Nationalität preis, nicht weil ich mich deren schäme, sondern weil ich die europäische Idee weitertragen möchte.
4. Eine Identifizierung der Bürger mit dem, was wir heute Europäische Union nennen, ist schwer vorstellbar. Dazu braucht Europa eine Identität, die man nicht aus dem luftleeren Raum schöpfen kann. Diese muss sich aus den historischen Wurzeln herleiten. Das historische Gedächtnis von Individuen und Völkern geht sehr weit zurück.
5. Der gerade stattgefundene Europatag in den Schulen ist ein begrüßenswerter Schritt in die richtige Richtung.

Europa braucht eine Identität
Grundsätzliche Offenheit für alle Länder, die bestimmte formelle Kriterien erfüllen, führt zu einem amorphen Gebilde, das nicht weiß, was es eigentlich darstellt. Zur Identitätsfindung ist folgendes notwendig:
1. Europas Ausdehnung muss definiert werden. Dies kann nur geschehen, wenn klar ist, auf welche Werte Europa sich gründet. Zu diesen Werten gehören ein kultureller Humus, der durch Griechen, Aufklärung, Christentum (ja, auch dies) Säkularität, Menschenrechte, …also etwas, das man etwas diffus als abendländische Weltsicht bezeichnen kann. (Ich bin weder Soziologe, noch Philosoph, diese Aufzählung ist sicher eher amateurhaft.)
2. Hieraus folgen zwangsläufig die Festlegung von Grenzen sowie der Ausschluss derer, die auch gerne dabei sein möchten.
3. Nun wird gerne die Ausstrahlung des europäischen Modells als Argument gegen einen solchen Ausschluss ins Feld geführt. Hiergegen zwei Gegenargumente: a) Europa sollte sich zuallererst fragen, was gut ist für die real existierende EU, weniger, was gut ist für andere. Kandidaten, die formelle Bedingungen erfüllen, können die „besonderen Beziehungen“ zur EU angeboten werden, die individuell auf den Kandidaten zugeschnitten sein können. b) Ein Gemeinwesen ist nur dann auf Dauer überlebensfähig, wenn es in sich gefestigt ist, weltpolitische strategische Überlegungen gehören in die zweite Linie. Innere Festigkeit wiederum ist nur erreichbar, wenn eine die Bürger überzeugende Identität sowie funktionsfähige Strukturen vorhanden sind. Dies setzt wiederum das Vorhandensein einer klar umgrenzten und definierbaren Einheit voraus. Derzeit wird die „Europäische“ Union nur als amöbenhaftes, beliebig wachsendes Gebilde gedacht.
Hier wird natürlich das Thema Türkei berührt. Die strategischen Argumente für eine Einbindung dieses Landes finde ich überzeugend, aber ob ein Mitglied Türkei der inneren Stärke der EU dient, ist zumindest im Augenblick zweifelhaft.
4. Warum wird nicht mitgeteilt, um welch einmalige Erfolgsgeschichte es sich bei der EU handelt. Das hat es m.W. doch noch nie gegeben, dass sich Länder dazu drängen in einer größeren Einheit aufzugehen. Demgegenüber ist die klassische Weise, ein politisches Gebilde zu vergrößern, auf purer Testosteronpolitik aufgebaut, d.h. auf Zwang und Terror, siehe Sowjetunion und Russland heute. Die EU bietet ihren Mitgliedern anscheinend etwas Wesentliches, das sie attraktiv macht. Diese Einmaligkeit sollte die Bürger doch mit Stolz erfüllen, wenn es ihnen denn bewusst gemacht wird.
5. Zur Identitätsfindung einer politischen Entität braucht es so etwas wie einen Grundlagenvertrag, in dem die Werte, auf die diese Entität sich gründet, und ihre Strukturen beschrieben werden. Den Titel „Verfassung“ muss dieses Dokument nicht tragen. Nochmals: Nehmt die Bürger mit! Dazu kann ein konzises und in verständlicher Sprache abgefasstes Dokument erheblich beitragen. Man nehme sich die Verfassung der USA zum Vorbild, deren Text mit den Zusatzartikeln gerade 15 Seiten umfasst. Der vorliegende Verfassungstext gibt eine Struktur vor, die meines Erachtens schwer zu handhaben ist. Leider vertritt die Bundeskanzlerin die Meinung „Augen zu und durch“. Es ist natürlich zuzugeben, dass ein neuer Anlauf mit jetzt viel mehr Mitgliedern einen enormen Zeitverzug bedeuten würde. Aber die Qualität des Endergebnisses sollte zählen.




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