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2. Runde: Braucht die EU eine Verfassung?


18.06.2007 - 13.46 Uhr

Europa der zwei Geschwindigkeiten wenn entschlackter Verfassungsvertrag scheitert?

anna,bue (Pseudonym)

Ich bin seit Jahrzehnten eine Anhängerin der europäischen Einigung, habe die Erweiterungen mit Freude gesehen und bin entschieden für eine europäische Verfassung.

Ich fände es sehr bedauerlich, wenn es am kommenden Gipfel nicht einmal zu einer Entscheidung für eine Vertragserneuerung kommen sollte, falls Polen tatsächlich sein Veto einlegt. Mit Sorge höre ich auch, dass Großbritannien und selbst die Niederlande plötzlich, nach 50 Jahren Einspruch erheben gegen den Vorrang von EU-Recht vor nationalem Recht - das wäre das faktische Ende der EU. Kaum nachvollziehbar ist es für mich auch, dass nicht einmal ein Verweis auf die Grundrechtecharta von Großbritannien akzeptiert werden soll.

Meiner Meinung nach wäre jedoch das polnische Veto nicht der Beginn einer Krise der EU, sondern ihr Gipfelpunkt. Diese begann bereits bei dem letzten "Erweiterungswahn" - er war zu schnell, zu groß. Ich stimme mit Jo Leinen überein, dass es zwingend einer Vertiefung, d.h. der Verfassung bedurft hätte bzw. mindestens einer Vertragsreform, die den Abstimmungsmodus verändert hätte, bevor es zu dieser Groß-Erweiterung kam. Mit dieser Großerweiterung ohne vorhergehende Vertragsveränderung war dann nicht einmal Schluss, es wurden weiteren Ländern Beitrittperspektiven gegeben und mit der Türkei begann man bereits mit konkreten Beitrittsverhandlungen. All dies geschah, ohne die europäische Bevölkerung "mitzunehmen". Dies hat sicherlich mit zu den Neins in Frankreich und den Niederlanden bei den Referenden zur Verfassung beigetragen und eben nicht nur innenpolitische Motive, wie uns immer wieder versichert wird. Eine schrittweise Erweiterung in Größenordnungen wie zuvor mit einem deutlich langsameren Tempo und ohne schon heute die Türkei, Ex-Jugoslawien und wer weiß welche weiteren möglichen Kadidaten ins Spiel zu bringen, hätte vielleicht auch bei den Referenden zu einem anderen Ergebnis beigetragen.

Allerdings ist daran auch deutlich geworden, dass es mit den Referenden nicht anders ist als bei anderen Entscheidungsprozessen. Bei 27 Ländern liegt es doch auf der Hand, dass bei welchem Thema auch immer irgend ein Land ausschert und nicht mitzieht, ob per Referendung oder Entscheidung auf anderer Ebene. Das sagt einem schon der gesunde Menschenverstand. Es ist deshalb unverantwortlich gewesen seitens der politischen Entscheidungsträger, die EU ohne vorherige Schaffung neuer Entscheidungsstrukturen dermaßen zu erweitern, damit handlungsunfähig zu machen. Ebenso unverantwortlich war es, sich für nationale Einzelreferenden zu verschiedenen Zeitpunkten entschieden zu haben statt einem Gesamt-Referendum am selben Tag in allen EU-Staaten. Diese Politiker haben letztlich die EU-Krise verursacht, nicht Polen voraussichtlich diese Woche, so fragwürdig dessen plötzliche Fixierung auf die Quadratwurzel auch sein mag, nachdem die vorherige polnische Regierung 2004 ja der jetzt vorliegenden und von 26 EU-Staaten befürworteten Stimmgewichtung bereits zugestimmt hatten.

Niemand weiß bis heute, wohin die Entwicklung gehen soll. Was ist das Ziel? Die vereinigten Staaten von Europa, was ich befürworten würde? Wo sind die Grenzen Europas? Sind sie identisch mit den geografischen? Ist die Basis eine weitgehend gemeinsame Kultur? Gemeinsame Grundwerte? Das sollte man wissen. Falls es einer der Verantwortlichen in Brüssel weiß, sollte dies kommuniziert und auch debattiert werden, andernfalls würde dem Verdacht Vorschub geleistet, die Erweiterung erfolge plan- und uferlos mit der Gefahr, dass sich der Bürger abwendet, statt sich mit der EU zu identifizieren.

Die Verfassung hätte für größere Klarheit gesorgt, was die EU eigentlich sein soll. Sie hätte die Nähe des Bürgers zur EU vergrößert, eingeladen zur Identifizierung auch auf emotionaler Ebene. Sie hätte dem Parlament wenigstens ein klein wenig mehr Einfluss gesichert. Dass es diese Verfassung nicht gegen wird, ist eine vertane Chance. Schade auch, dass nicht einmal so banale Symbole wie Flagge und Hymne, die doch helfen, die Herzen zu beteiligen, von einigen Ländern abgelehnt werden. Die europäische Einigung ist so etwas Schönes, auf das wir Europäer eigentlich stolz sein könnten. Schade!

Wenn nicht einmal die kleine Lösung kommen sollte aufgrund des Widerstandes von Polen, aber vielleicht auch Großbritanniens, Tschechiens oder gar der selbst der Niederlande, dann wäre ich froh, wenn die EURO-Länder den Mut zum Europa der zwei Geschwindigkeiten aufbrächten, wenn sie also entschlossen voranschritten in Richtung Vertiefung.

Ich wäre froh, zumindest dieses "Kern-Europa" oder wie immer man es nennen wollte, könnte sich dann auf die Grundrechte-Charta einigen, auf mehr Demokratie durch ein gestärktes und bei Entscheidungen beteiligtes EU-Parlament, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik samt Außenminister mit Kompetenzen, Mitarbeitern und Budget sowie eine Präsidentschaft, einen Präsidenten, der länger als ein halbes Jahr tätig sein und für Kontinuität sorgen könnte.

Allmählich bin ich auch die ewige Nörgelei aus Großbritannien leid, so sehr ich die Engländer liebe und England das Land ist, das ich am häufigsten bereist habe. Würde nicht ein "Europa der zwei Geschwindigkeiten" am Ende allen und auch der Realität gerechter werden als all die hochfliegenden Vorstellungen, die zu dem Ergebnis geführt haben, das wir heute beklagen? All die Länder, die sich nichts sehnlicher wünschen als eine weniger verbindliche, lockerer assoziierte EU, die nicht mehr wünschen als eine Wirtschaftsgemeinschaft, könnten genau dies im "EU-Außenring" haben, während der Innenring sich auch politisch zusammenschließt, um endlich, endlich in der Welt mit einer einheitlichen Stimme zu sprechen und sich nicht mehr zum Nutzen Dritter (etwa den USA oder Rußlands) auseinander dividieren läßt. Ich bin mir sicher, ein zunächst wieder kleineres, aber starkes Europa würde die Identifizierung der Bürger mit diesem Europa wieder stärken.

Es wäre eine Ironie der Geschichte, wenn es käme: Die EU, die sich an der plötzlichen Riesen-Erweiterung verschluckt hat, würde sich teilen und das Kerneuropa hätte wieder in etwa die Größe der EU vor jener Erweiterung - allerdings in anderer Zusammensetzung.

Ich frage mich jedoch, ob so etwas überhaupt geht: was wird aus den europäischen Institutionen, der Kommission, dem Rat, dem Parlament? Denn eines ginge unter diesen Umständen sicher nicht, dass nämlich all die locker assoziierten Außenstehenden wie heute weiterhin mitreden und mitbestimmen, was in Kerneutopa zu geschehen hat.

Und was soll aus den Zusagen werden, die längst gemacht wurden? Unnötig hat der damalige Erweiterungskommissar Verheugen die EU in eine Konfliktlage getrieben: z.B. kann man nicvht mehr hinter das zurück, was der Türkei zugesagt wurde. Das wäre nicht nur schädlich der Türkei gegenüber, sondern es würde die ganze EU diskreditieren als nicht zuverlässiger Vertragspartner, der nicht hält, was er zusagt. Spätestens aber, wenn die Türkei gegen den Willen der Bevölkerung beitreten sollte, verlöre die EU das Vertrauen der Bürger, und das bliebe nicht folgenlos. Was wird also aus der Türkei, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Serbien, die alle auf einen Beitritt warten, wenn es zum Europa der zwei Geschewindigkeiten käme? Welche rechtlichen Konsequenzen hätte ein Europa der zwei Geschwindigkeiten?

Sollte es möglich sein, wäre ich erleichtert über einen solchen Schritt, damit endlich die gegenseitige Lähmung und Blockierung überwunden wirde. Ich würde hoffen, dass die EU-Staaten, die sich dann zu jenem Kern zusammenschlössen auch wieder bereit wären, nicht mehr nur an ihren jeweils eigenen nationalen Interessen entlang zu entscheiden, sondern zum Wohle des Ganzen. Mich empört die gegenwärtige Rosinenpickerei mancher EU-Staaten, die sehr wohl und nur zu gern das Geld der anderen EU-Staaten nehmen und alle weiteren Vorteile, die sie aus der EU ziehen können, mitnehmen, die aber keinerlei Bereitschaft zu Kompromissen zeigen, die Sonderregeungen und opt outs verlangen. Mit welchem Recht genießt das reiche Großbritannien seit seinem Beitritt bis heute Sonderrechte?

Die neue Kern-EU, so sie denn kommt, möge mit all diesen Dingen Schluß machen. Sie soll sich eine Verfassung geben, und nur wer dieser mit allen darin enthaltenen Rechten und Pflichten VERBINDLICH zustimmt, kann Mitglied sein. Alle anderen müssen leider draußen bleiben. Wird in irgendeinem dieser Mitgliedsländer eine Regierung gewählt, die gegen die Verfassung oder Teile daraus handelt und entschiedet, dann muss automatisch die Mitgliedschaft ruhen können.

Um das noch einmal klarzustellen: Ich wünsche mir nicht ein kleines überschubares Europa, sondern ein handlungsfähiges und eines, von dem ich weiß, was es ausmacht und worauf es zusteuert. Natürlich kann das "Kern-Europa" sich im Laufe der Zeit auch erweitern und vielleicht wird es eines Tages wieder 27 oder 30 Staaten umfassen - jedoch auf einer klaren Grundlage, mit klaren Regeln, definierten Rechten und Pflichten. Und ich wünsche mir, dass Entscheidungen von großer Tragweite nicht über die Köpfe der Bürger hinweg gemacht werden, durch ein starkes gewähltes Parlament und das gesamte Gebiet umfassende Referenden. Dazu gehört auch die Frage der Grenzen. Eine Wirtschaftsgemeinschaft kann sich selbstverständlich nach Afrika, Asien ausbreiten, die Vereinigten Staaten von Europa aber meines Erachtens nicht. Die Verfassung sollte deshalb so klar wie möglich umreißen, was die gemeinsamen Grundlagen, die gemeinsamen Werte und die gemeinsame Kultur sind, zu denen sich Beitretende bekennen müßten.




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