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2. Runde: Braucht die EU eine Verfassung?


19.06.2007 - 14.51 Uhr

Die EU braucht eine Verfassung

gregorius (Pseudonym)

Bemerkungen zur Verfassungsdiskussion

In der Verfassungsdiskussion wird nach der Ablehnung der europäischen Verfassung durch Frankreich und Niederlanden und nach dem Dissens über das Mehrheitsentscheidungsmodell (55% der Staaten, 65% der Bevölkerung) über die Möglichkeit eines Europas der zwei Ge-schwindigkeiten oder der Entwicklung der europäischen Gemeinschaft zu einer reinen Wirt-schaftsgemeinschaft diskutiert, die vor allem in Großbritannien bis heute auf ein großes Echo stößt.

Meines Erachtens ist ein Europa ohne Verfassung eine Gemeinschaft ohne Fundament. Die Ablehnung der Verfassung, insbesondere auch der Symbole wie Flagge, Hymne, europäi-schen Außenminister etc. deutet daraufhin, daß es nach 50 Jahren nicht gelungen eine euro-päische Identität zu schaffen. Amerika erwuchs durch den Kampf gegen die englische Vor-herrschaft und hat in der auf dem christlichen Menschenbild orientierte Menschenrechtserklä-rung verfaßt, auf der Identität Amerikas bis heute basiert. Nach dem Eintritt Amerikas in den I. Weltkrieg war es das Ziel Amerikas, die drei Kaiserreiche (Deutschland, Österreich, Ruß-land), die nach Jahrhunderten immer noch glaubten, sich gegen den Demokratisierung zu sperren und an einer feudalen Ordnung festhalten zu können, zum Einsturz zu bringen. Die Wirren, die aus dem Zusammenbruch der drei Kaiserreiche entstand, ahnte in Amerika aber niemand. Und nachdem sich Frankreich mit seiner Idee der Bestrafung Deutschlands durch-gesetzt hatte und das Selbstbestimmungsrecht nicht für Deutschland und Österreich gelten ließ, haben sich die Amerikaner zurückgezogen. Nachdem in Russland durch die Wirren nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs zum Sieg Lenins und der bolschewistischen Partei führte und nachdem nach dem Zusammenbruch des Wilhelminischen Reichs nach den wirt-schaftlichen, politischen und geistigen Krise der Weimarer Republik Hitler zur Macht kam, griff die USA nach anfänglichem Isolationismus in den Krieg ein, um nun eine Demokratisie-rung Europas voranzutreiben, die nicht mehr auf der Bestrafung Deutschlands – wie im Ver-sailler Friedensvertrag – hinauslief, sondern auf dessen Integration. Die pseudoreligiösen Heilsversprechungen des Kommunismus (mit der Vernichtung der Bourgeosie und des Kapi-talismus eine friedliche Weltherrschaft der Bauern und Arbeiter herbeiführen zu können) wie auch die pseudoreligiösen Heilsversprechungen des Nationalsozialismus (mit der Vernichtung des Judentums eine friedliche Weltordnung herbeizuführen) führten neben ungeheuerlichen Opfern zu keiner Lösung. Als einzige Alternative hat sich die amerikanische Vision einer friedlichen Weltordnung herausgeschält, dessen Prinzipien der freie Markt, die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit sind. Bedenkt man, daß diese amerikanische Zivilreligion ihre Basis darin hat, daß mit Berufung auf Gott dem Menschen unveräußerliche Rechte zugespro-chen werden, dann wird klar, daß diese Idee einer friedlichen Weltordnung nur dann Chancen auf Verwirklichung hat, wenn die Idee des Rechtes auf das Leben und des Rechtes auf Ei-gentum überall respektiert wird. Nun zeigt sich aber gerade in Europa, daß trotz der Erfah-rung, daß Millionen unschuldiger Menschen in den Konzentrationslagern des Nationalsozia-lismus wie auch in den Arbeitslagern des Kommunismus man dennoch in den demokratisch sich am fortschrittlichsten verstehenden Ländern wie England, den Niederlanden und Frank-reich das Recht auf Leben wieder eingeschränkt wird in der Frage der Abtreibung. Wenn das Recht auf Leben – im Fall der Abtreibung des Recht auf Leben auf Seiten des Kinder – abge-wogen wird mit dem Recht auf Selbstbestimmung der schwangeren Frau, dann wird das Prin-zip der Rechtsstaatlichkeit, wie Robert Spaemann hinlänglich hat zeigen können, ausgehöhlt. Europa hätte die Chance gehabt, aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus und Kommu-nismus die Lehre zu ziehen, daß es künftig in allen Ländern Europas Konsens sein muß, kei-nen Unschuldigen zu töten. Da dieser Konsens letztlich nur durch eine Beziehung auf Gott möglich ist, ist die Streichung des Bezugs auf Gott ein Zeichen dafür, daß sich Europa von seinen Fundamenten verabschiedet hat und keine Identität besitzt.

Papst Benedikt XVI. wie auch sein Vorgänger Papst Johannes Paul II. haben darauf aufmerk-sam gemacht, daß sich mit der Verweigerung des Rechts auf Leben – auf Seiten der ungebo-renen Kinder – eine Zivilisation des Todes auszubreiten beginnt. Aber zukunftsfähig ist nur eine Zivilisation der Liebe, in der der Schutz des Lebens und damit des Rechts auf Leben von der Zeugung bis zum Tod garantiert ist. Ohne hier näher auf die philosophische Begründung einzugehen, daß mit der Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung das Personsein jedes Men-schen gegeben ist, wie Spaemann in seinem Buch „Personen“ gezeigt hat, ist klar, daß ohne eine Verfassung und damit ohne Festlegung der Prinzipien, auf denen das künftige Europa basiert, für alle Bürger unklar ist, was das Ziel und der Grund der europäischen Einigung ist. Um zu klären, was die Ziele der Väter der europäischen Einigung nach dem II. Weltkrieg wa-ren, ist eine kurze Replik auf die Geschichte erforderlich.

In manchen Städten Italiens wurde noch bis in die Neuzeit an jedem 25. März Neujahr gefei-ert. An diesem Tag gedachte man der Empfängnis Marias. Diesem Festtag korrespondiert Weihnachten 9 Monate später, dem Fest der Geburt ihres Sohnes. An diesem Festtag wurde vor 50 Jahren auf dem kleinsten Hügel Roms, dem Campidoglio, nicht ein neues Jahr, son-dern ein neues Zeitalter eröffnet. Zwar wurde die Hälfte des europäischen Kontinents noch von der kommunistischen Diktatur beherrscht, aber hier erhob sich auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges das karolingische Europa plötzlich wieder aus den Trümmerbergen des Konti-nents.

Den entscheidenden Schritt zur Aussöhnung mit Frankreich hat Europa einem Politiker zu verdanken, der in Luxemburg geboren wurde, in einer katholischen Familie aufwuchs, der in Metz im damaligen Elsaß-Lothringen zur Schule ging, deutsche Hochschulen besuchte und in Deutschland promovierte. Nach dem I. Weltkrieg wurde er Mitglied der französischen Natio-nalversammlung und trat im Gegensatz zu Clemenceau für eine Versöhnung ein. Bekanntlich kam es nicht dazu, weil durch das Siegesgefühl, Deutschland besiegt zu haben und durch den Hass Clemenceaus Deutschland ein demütigender Friede in Versailles aufgezwungen worden war. Briands Bemühen um eine Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich hatte kei-nen Erfolg. Alle Parteien der Weimarer Republik waren sich darin einig, dieses verhasste Diktat von Versailles zu brechen – nicht nur die NSDAP, sondern auch die KPD, die SPD und das Zentrum betrachteten den Versailler Friedensvertrag als demütigend und als äußeres auf-gezwungenes Diktat.

Nach dem II. Weltkrieg war es Robert Schumann, der die Wende in der europäischen Ge-schichte einleitete und der mit der Tradition der klassischen europäischen Friedensabschlüsse gebrochen hat, in denen Friedensverträge immer identisch waren mit Diktaten des Siegers. Dieses Bemühen um eine Versöhnung mit Deutschland geschah bei Robert Schuman aus der christlichen Überzeugung heraus, Versöhnung statt Vergeltung zu üben. Er hat zeit seines Lebens nie sein Bekenntnis zum Christentum verleugnet und lebte nach der benediktinischen Regel und dem kirchlichen Kalender und brachte es fertig auch als Ministerpräsident fast täg-lich zur Messe zu gehen. Die Abgeordneten der französischen Nationalversammlung vertrau-ten in der IV. Republik die französische Deutschlandpolitik klugerweise einem Politiker an, der 32 Jahre lang die deutsche Staatsangehörigkeit besaß. Am 8. Mai 1945 erkannten die mei-sten Abgeordneten, daß es keinen besseren Deutschlandkenner gibt. Als Ministerpräsident erklärte er in der Nationalversammlung: „Man hat den Deutschen alles verweigert, als man ihnen etwas hätte geben können, man hat ihnen alles gelassen, als man ihnen hätte widerste-hen müssen. Ich will es anders machen.“ Und er machte es anders und erreichte im Kampf gegen die populistischen Forderungen vieler Franzosen nach erneuter Rache und Demütigung Deutschlands die Durchsetzung seiner Devise: „Versöhnung statt Vergeltung“. Die Gründe für sein politisches Handeln waren geistiger Natur, sie entsprangen der christlichen Lehre der Überwindung der Selbstsucht. Und das hieß auf die Beziehungen zwischen Nationen übertra-gen, die Überwindung der nationalen Egoismen und das gemeinsame Streben nach Gemein-wohl. Am 9. Mai 1950 verkündete er den sogenannten Schuman-Plan als Grundlage für die politische Neugestaltung Europas. Das Angebot einer Gemeinschaft von gleichberechtigten Partnern an den verhassten Feind schlug wie eine Bombe ein. In der französischen Presse sprach man in kriegerischen Tönen von der „Schuman-Bombe“, die nun geplatzt sei. Diese Schuman-Bombe brachte aber nicht wie der Sprengstoff Tod und Verderben, sondern die Überwindung von Hass und Rache und führte durch die Versöhnung mit Deutschland zu ei-nem neuen und sicheren Leben in Europa.. Schuman bemerkt in seinem Buch dazu: „Am 9. Mai 1950 änderten wir unsere Politik von Grund auf. Wir boten Deutschland und den übrigen teilnehmenden Staaten einen Zusammenschluss ohne jegliche Diskriminierung oder Be-schränkung an.“

Die Überraschung war total, denn niemand hatte zu diesem Zeitpunkt eine solche Initiative erwartet. Um künftige kriegerische Auseinandersetzung auszuschalten, sah der Schuman-Plan vor, denjenigen Industriezweig einer gemeinsamen Hohen Behörde Frankreichs und Deutschlands zu unterstellen, der für die Rüstungsindustrie unentbehrlich ist: die Kohle- und Stahlindustrie. Damit war erstmals nach Tausend Jahren Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich der Grundstein für die erste Stufe des europäischen Bundesstaates gelegt (fédération europénne). Die Ratifikation der Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) war allerdings für Schuman mit einem Martyrium verbunden. Zur Begrüßung in der Nationalver-sammlung gab es Schmährufe vom linken und rechten Spektrum des Parlamentes. Man schrie: „Gauleiter Schuman raus!“ und trommelte auf die Pulte und schrie: „Schuman ment, il es allemand!“ (Schuman lügt, er ist Deutscher!) und „Voilà le boche!“ („Da ist der Sau-preuß“). Und die Gaullisten sangen: Un boche, un bon boche, mais un boche quand me-me!"“(ein Saupreuße, ein guter Saupreuße, aber dennoch ein Saupreuße). Trotz all dieser Schmährufe und Verleumdungen, unter denen er persönlich sehr litt, setzte er sein in Gang gesetztes Versöhnungswerk durch, nämlich einen Vertrag mit gleichen Rechten und Pflichten für die Mitgliedstaaten. Der am 18. April 1951 in Luxemburg von Konrad Adenauer, Joseph Bech und Robert Schuman unterzeichnet Vertag war das genaue Gegenteil von dem, was sich Deutschland und Frankreich 1871 und 1919 in Versailles angetan hatten. Es war die Geburts-stunde zwischen gleichberechtigten Partnern, nicht mehr ein Diktat des Siegers gegenüber dem Besiegten, sondern Vergebung statt Vergeltung, es war die Geburtsstunde eines neuen Europas, in der es weder Sieger noch Besiegte, sondern nur noch Partner gibt. Und vor 50 Jahren am 25. März 1957 wurden dann in Rom die Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschafts- und Atomgemeinschaft unterzeichnet, die dank dem belgischen Außen- und Premierminister Spaak, einem Sozialisten, das Werk Robert Schuman’s fortsetzte. Am 19. März 1958 – dem Tag des hl. Joseph – wurde Robert Schuman einstimmig zum ersten Präsi-denten des Europäischen Parlamentes gewählt. Da er sein Handeln von christlicher Überzeu-gung geleitet war und er als Vater und Initiator und Gestalter des neuen Europa angesehen werden kann, wurde im Bistum Metz durch Bischof Raffin 1990 das Verfahren zur Seligspre-chung eröffnet, das seit 2004 in Rom anhängig ist. Er gilt für viele heute in Europa als Ge-folgsmann der Bergpredigt: „Selig sind die, die Frieden stiften!“ Das Wirken von Robert Schuman hat wie eine Wunder den Lauf der europäischen Geschichte gewendet. Eine weitere wunderhafte Wende war die Umkehr von Charles de Gaulle 1963 und der Zusammenbruch des Sowjetregimes 1989.

Aus Anlass der 50 Jahrfeier am 25. März 2007 wird nun in einem Freudenfest dieser wun-derbaren Wende in der europäischen Politik gedacht. Die Kommentatoren der verschiedenen europäischen Zeitungen verweisen darauf, welche Vorteile die Europäische Union für die Völker Europas gebracht hat, daß nach Tausend Jahren kriegerischer Auseinandersetzungen nun endlich Frieden und Wohlstand für alle Völker Europas eingekehrt sei und vieles andere mehr.

Zwar waren die katholischen Politiker Adenauer, Robert Schuman und de Gasperi aus christ-licher Verantwortung heraus bestrebt, einen Neuanfang zu machen und vor allem Deutschland als das Land, von dem die beiden Weltkriege ausgingen und von dem aus die Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas organisiert wurde, wieder in den Kreis der zivilisierten Völ-ker einzubeziehen, aber herausgekommen ist zunächst ein wirtschaftlicher Verbund. In Euro-pa sollten die Binnenzölle unter den sechs Mitgliedern beseitigt und damit ein freier Waren-austausch gewährleistet werden. Zusätzlich sollte die Kernenergie Europa von Öl- und Kohle-einfuhren unabhängig machen. Erst viel später visierte man eine politische Union an. Dabei wurde aber meines Erachtens das Pferd beim Schwanz aufgezäumt, denn nach Tausend Jah-ren von Bürger-, Religions- und Konfessionskriegen und Kriegen um die Vormachtstellung in Europa wäre es zunächst einmal darauf angekommen, was das geistige Fundament und damit die Identität Europas auszeichnet. Da die „Berliner Erklärung“ keinerlei Hinweis auf die christliche Religion als Fundament von der europäischen Einheit enthält, ist die scharfe Kritik an der „Berliner Erklärung“ durch Papst Benedikt XVI. verständlich, daß die EU vom Glau-ben abgefallen sei und daß damit Zweifel an der eigenen Identität Vorschub geleistet werde.

Papst Benedikt XVI. hat in seiner Regensburger Rede eine klare Antwort auf das Wesen der europäischen Identität gegeben. Die europäische Identität hat sich durch die Synthese von griechischer Philosophie, jüdischer Offenbarung und römischem Recht herauskristallisiert. Rom galt als die Synthese von Athen und Jerusalem. Dadurch wurde die Grundlage für die Einheit von Glaube und Vernunft gelegt. Das neue Gottesbild ist von dem Gedanken geprägt, daß Gott und Vernunft eins sind. Ein Handeln, das sich auf Gott beruft, kann deshalb nie wi-dervernünftig sein. Keine Gewalt im öffentlichen oder im privaten Bereich ist demzufolge durch die Berufung auf Gott zu rechtfertigen, auch wenn das oft versucht worden ist. Diese europäische Identität ist durch die drei großen Enthellenisierungen zerbrochen (Reformation, liberale protestantische Theologie, synkretistisches Konzept einer Einheitsreligion im Sinne des New Age).

Nach der 500jährigen Spaltung durch die Reformation wäre nach der 50 Jahrfeier der europäi-schen Einigung eigentlich eine Rückkehr zur Einheit Europas aus dem Geist Athens, Israels und Roms wünschenswert. Aber es scheint, daß der Kampf gegen das Judentum zwar beendet ist, der Kampf gegen Rom aber speziell in Deutschland immer noch vom protestantischen Geist weiter geführt wird, wie sich in Fragen der Homoehe, der Abtreibung, des Antidiskri-minierungsrechts etc. zeigt. War der protestantische Geist im Wilhelminischen Reich ganz auf die Errichtung eines heiligen evangelischen Reichs und im I. Weltkrieg auf die Durchsetzung der Vorherrschaft dieses Reichs mit seinem Kampfruf "Ordnung und Innerlichkeit“, so im Dritten Reich auf die Errichtung einer judenfreien Welt im Inneren und Äußeren, so nach dem II. Weltkrieg auf die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft und heute auf die Errich-tung einer feministisch-ökologistischen Gesellschaft. Heute ist sogar in die katholische Kir-che Deutschlands der Geist der Protestantismus selbst eingedrungen, deren progressive Teile die Protestantisierung der katholischen Kirche fordern: Aufhebung des Zölibats, Zulassung von Frauen zum Priestertum, Abschaffung des Papsttums und damit des Lehramtes der Kir-che, gemeinsames Abendmahl, Ablehnung der Globalisierung und Propagierung von Umwelt- und Klimaschutz, von Abtreibung, Homoehe und Euthanasie.

Entscheidend für die Spaltung Europas war die Reformation Martin Luthers. Aus Deutschland – der Mitte Europas – ist dieser Riss ausgegangen und er kann auch nur von hier wieder ge-heilt werden. Bei Luther bestätigt sich die allgemeine Erkenntnis, daß nur derjenige einen Streit anfängt, der in sich selbst zerstritten ist. Die Spaltung Europas beginnt im Inneren der Seele Luthers, in seinem Kampf mit dem Teufel auf der Wartburg in Eisenach. Und heute hat das Land, von dem die europäische Spaltung ausging und das mitten in Europa liegt, meines Erachtens die Aufgabe, die Spaltung zu überwinden. Entscheidend für die Aufkündigung der europäischen Einheit war nicht die Kritik Luthers an Mißständen der Kirche – solche Miß-stände gab es häufiger im Mittelalter und waren Anlaß zu Reformen der Kirche – sondern die grundsätzlich völlig neue Orientierung der Theologie an der Innerlichkeit des glaubenden Menschen und vor allem in der Verlegung des Bösen in Gott. Diese Orientierung an dem sich selbst glaubenden Glauben führte weg von der Orientierung am Sein Gottes, am Sein des Menschen und am Sein der Welt und führte hin zur Orientierung am Bewusstsein und der Innerlichkeit. Diese Enthellenisierung fand ihren Abschluss in der idealistischen Philosophie Kants, Hegels, Fichtes und Schellings und setzte sich dann im 19. Jahrhundert fort und führte im liberalen Kulturprotestantismus zur zweiten Enthellenisierung des Christentums.

Benedikt XVI. weist in seiner Regensburger Rede zu Recht darauf hin, daß der Kerngedanke der zweiten Enthellenisierung, den die liberale evangelische Theologie des 19. Jahrhunderts uns bescherte, in der Forderung nach der Rückkehr zum einfachen Menschen Jesus und seiner einfachen Botschaft bestand, die allen Theologisierungen, Spekulationen, Interpretationen und Hellenisierungen vorausliege. Jesus Christus wird als Verkünder einer menschenfreundlichen moralischen Botschaft verstanden. Im Mittelpunkt dieser Enthellenisierung stand das Bemü-hen, das Evangelium mit der modernen Vernunft in Einklang zu bringen. Es ging Harnack – als dem bedeutendsten theologischen Vertreter dieser Enthellenisierung – darum, das Chri-stentum von philosophischen Elementen wie etwa den Glauben an die Gottheit Christi und die Dreieinigkeit Gottes zu befreien und die Botschaft Jesus im Sinne der historisch-kritischen Methode auszulegen. Wie schon Kant ging es Harnack um die Reduzierung des Christentums auf eine Vernunftreligion, die sich daher von allen Elementen reinigen muss, die nicht in Ein-klang mit dem naturwissenschaftlichen Denken zu bringen sind (wie Wunder, Gottheit Chri-sti, Dreieinigkeit Gottes, Jungfrauengeburt). Theologie muss nach Harnack eine rein histori-sche Wissenschaft werden und die historische Wissenschaft muss sich wie alle Wissenschaf-ten vom Menschen (Soziologie, Psychologie) dem Kanon der Wissenschaftlichkeit unterwer-fen. Und wissenschaftlich gilt im Sinne des positivistischen Selbstverständnisses nur die Me-thode, die mit Hilfe von Theorien durch empirische Experimente Hypothesen überprüft. Die Gottesfrage gilt von daher als eine unwissenschaftliche und vorwissenschaftliche Frage. Da-bei wird aber nicht nur die Vernunft, sondern auch der Mensch verkürzt, betont zu Recht Papst Benedikt XVI. in seiner Regensburger Rede, da die Frage nach dem Woher und Wohin des Menschen und die Fragen der Ethik aus dem Raum der Wissenschaft und damit dem Raum rationaler Argumentation ausgeschlossen werden. Die Pathologien der Verabsolutie-rung der Vernunft zeigte sich dann in der Instrumentalisierung der Vernunft für beliebige Zwecke und in den beiden Weltkriegen.

Die dritte Enthellenisierungswelle, auf die Papst Benedikt XVI. in seiner Regensburger Rede aufmerksam gemacht hat, ist das heutige Bemühen der New-Age-Bewegung, die Vielheit aller Kulturen und Religion zu einer Synthese zu bringen. Nach der gelungenen Inkulturation des Christentums in die griechische Kultur fordern viele heute, daß es nun darauf ankommt, das Christentum in andere, fremde Kulturen zu inkulturieren. Dabei wird aber nach Papst Be-nedikt XVI. vergessen, daß die Grundentscheidungen, die den Zusammenhang des Glaubens mit der menschlichen Vernunft betreffen, zu diesem Glauben selbst gehören und daher, was die Einheit von Glaube und Vernunft betrifft, man sich nicht einfach von der griechischen Inkulturation lösen kann. Das vom griechischen Geist geschriebene Neue Testament und die vom griechischen Geist beherrschten Aussagen der ersten sieben Konzile können deshalb nicht umgeschrieben werden wie z. B. das Credo.

Neben dem Islam wandte sich Benedikt XVI. vor allem an die deutschen evangelischen Gläu-bigen und Theologen. Denn auch im Protestantismus ist das Band zwischen Glauben und Wissen zerrissen. Daß sich Gott und Vernunft und damit Philosophie und Theologie, natürli-ches und übernatürliches Wissen nicht widersprechen können, ist die Frucht des griechischen Geistes gewesen. Der arabische Prophet Mohammed und der deutsche Prophet Luther führen in die Sackgasse einer Entgegensetzung von Glaube und Vernunft und damit in die Sackgasse eines Gottesbildes, das von der Vorstellung eines Willkürgottes geprägt ist, der auch gegen die Vernunft handeln kann. Die vom griechischen Denken begründete Erkenntnis, daß Nicht- vernunftgemäß-Handeln dem Wesen Gottes zuwider ist, ist nach Benedikt eine für alle Zeiten unwiederbringliche Einsicht. Gerade die Trennung von Glaube und Wissen und die Erklärung Luthers, daß jeder Gläubige zu seiner eigenen Interpretation der Schrift berechtigt ist, führte im Protestantismus dazu, die Schrift auch mit den verschiedensten irrationalen Ideologien der Neuzeit in Einklang zu bringen. Da nach dem protestantischen Verständnis jeder Christ Prie-ster und sein eigenes Lehramt bezüglich der Auslegung der Schrift ist, konnte es nicht aus-bleiben, daß sich der protestantische Geist immer bereit war, sich für alle möglichen politi-schen und geistigen Zeitströmungen zu öffnen. Deshalb verfielen die Deutschen Christen dem Zeitgeist des Nationalsozialismus und sahen in Hitler den Retter und Erlöser, verfielen nach dem II. Weltkrieg viele Protestanten dem sozialistischen Zeitgeist und erblickten in der Er-richtung der sozialistischen Weltrevolution und damit in der Entkolonisierung der Dritten Welt und in der Abschaffung des Kapitalismus die Erlösung und heute sind die Mehrheit der Protestanten dem Feminismus und Ökologismus verfallen und betrachten die Klimakatastro-phe als die größte Herausforderung und das größte Übel, das es zu bekämpfen gilt und sehen in der Herrschaft der Männer das Grundübel aller die Geschichte der Menschheit bis heute beherrschenden politischen, kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen Unterdrückungsformen.

In der Alten Aula der Philipps-Universität in Marburg rühmte der Ehrendoktor des Fachbe-reichs Gesellschaftswissenschaften und Philosophie, der Altkanzler Helmut Schmidt, im März 2007 den chinesischen Konfuzianismus dafür, daß er nicht auf Religion, sondern auf Vernunft begründet sei und daß es auch Wolff, der 1723 von Halle nach Marburg wegen seiner atheisti-schen Moralbegründung hat wechseln müssen, um eine auf Vernunft und nicht auf Religion begründete Ethik ging. Die These vom Priestertrug durfte in dieser von vielen Zitaten ge-spickten Rede nicht fehlen. Denn nach Helmut Schmidt bestand und besteht das Versäumnis der drei abrahamitischen Religion darin, daß sie nicht wechselseitig über die andere Form der Religion aufgeklärt haben. Seit dem Ende seiner Kanzlerschaft beschäftigt sich der 88jährige vor allem mit der Lektüre der anderen Religionen und mit dem Problem der Toleranz. Dabei – so betonte Helmut Schmidt – vergrößerte sich seine Distanz zum Christentum immer mehr. Vor allem waren ihm in seinen politischen Entscheidungen als Kanzler weder die Philosophie noch die Bibel eine Hilfe. Vor der Kulisse nationalprotestantischer Historiengemälde der Marburger Aula stellt er fest, daß die meisten Deutschen sich völlig vom Christentum gelöst haben und zog daraus den Schluss, daß das Volk bei Wahlen sich nach der Gesinnung und Stimmung und die Politiker sich nur vom Gewissen leiten lassen sollten. Allein die Entschei-dung bleibt nach ihm immer eine heroische Tat nach aller Vernunft.

In ähnlicher Weise verteidigt auch eine der bekanntesten und vom protestantischen Geist ge-prägte deutsche Philosoph Peter Sloterdijk den Protestantismus. Nach ihm gilt es, alle Reli-gionen abzulehnen, die zur Unterwerfung auffordern, d.h. zur Anerkennung einer Instanz, die das Recht hat, den guten Tod zu geben. Wir müssen nach ihm die Idee eines Lebens aus dem Können in unterwerfungslustige Kulturen einführen, damit sich auch die Religion wandelt, von einer Religion der Unterwerfung (Judentum, Katholizismus, Islam) „zu einer Religion des betreuten Könnens, also, europäisch gesprochen, Protestantismus, der Glaube des von Gott getragenen Könnens.“ Hier wird nach 500 Jahren die Idee Luthers wiederholt und klar der Kampf gegen Juda und Rom aufs Neue angesagt. Der Glaube des von Gott getragenen Kön-nens wird der Unterwerfung unter Juda, Rom oder Mekka entgegen gestellt.

Bedenkt man, daß nach dem II. Weltkrieg Deutschland nach wie vor vom protestantischen Geist geprägt ist und daß vor allem die vom protestantischen Pietismus geprägte Philosophie Jürgen Habermas auf weltweite Resonanz gestoßen und weltweiten Einfluss genommen hat, dann wird klar, daß es in Deutschland auch nach 500 Jahren Spaltung keine Einheit unter dem Dach des päpstlichen Lehramtes vorstellbar ist, auch wenn der heutige Papst seit Luthers Zeiten erstmals wieder ein Deutscher ist.

Nach der Herauskristallisierung der wirtschaftlichen und politischen Einheit Europas wird erst heute in der Diskussion um die europäische Verfassung darüber diskutiert, was Europa kultu-rell eint, was also die Identität Europas ausmacht. Will man diese Frage beantworten, so ist ein Rekurs auf die europäische Geschichte unabdingbar. Bis zur Reformation gab es eine kulturelle Einheit Europas, die durch die Reformation zerbrach. An die Stelle der Einheit von Glaube und Vernunft trat die absolute Trennung von Glauben und Wissen, an die Stelle der Einheit von Philosophie und Theologie trat die absolute Trennung von vernünftiger Einsicht und der nur im Glauben und Herzen des einzelnen Menschen sich erschließenden und an-nehmbaren Offenbarung, an die Stelle der Einheit von Natur und Gnade trat die absolute Trennung von Natur und Übernatur, die absolute Trennung von Schöpfer und allem Geschaf-fenen, von sichtbarer und unsichtbarer Kirche, von Individuum und Gemeinschaft. Diese ra-dikalen Entgegensetzungen und nicht der Ablasshandel waren es, die Europa geistig, politisch und kulturelle gespalten haben.

Politisch leistete die Zwei Reiche Lehre Luthers einer säkularen Gesellschaftsordnung Vor-schub, in der die Religion nur noch als eine rein private Angelegenheit des gläubigen Men-schen gilt. Der Staat gilt als Garant der öffentlichen Ordnung, die Kirche als Garant der Aus-legung der Bibel nach dem reinen Schriftprinzip. Hegel zog als Theologe und Lutheraner dann daraus die philosophischen und politischen Konsequenzen. Im Reich des absoluten Gei-stes – konkret im preußischen Staat als Inkarnation des heiligen evangelischen Reichs – geht es um die Verwandlung der Theologie in Philosophie, der Kirche in den Staat und der Priester in Beamte des Staates. Der neue Gottesdienst gilt also dem Staat und nicht mehr der Kirche, der Welt und nicht mehr Gott.

Politisch führte dieser Hochmut des lutheranisch geprägten Protestantismus in Preußen dann dazu, an Stelle des römischen antichristlichen, am Dogma und reiner Äußerlichkeit klebenden Denkens und Glaubens eine rein am geistigen Innenleben des Menschen ansetzende Gläubig-keit zu setzen. Von diesem Geist beseelt strebte nach der deutschen Reichsgründung 1871 in Versailles dann die politische, wirtschaftliche und militärische Elite des evangelisch-preußisch geprägten Deutschlands die geistige und politische Vorherrschaft zunächst in Euro-pa (I. Weltkrieg) und dann im II. Weltkrieg die Vorherrschaft in der ganzen Welt an. Die De-vise gegen Rom und die westliche Zivilisation lautete von Luther bis Hitler: Ordnung (stän-disch-feudal Ordnung), Innerlichkeit (sola fides, sola scriptura, sola gratia) und Zucht bzw. Pflichterfüllung (autoritärer Staat)

In der deutschen Tradition wurde „Kultur“ (von lateinisch collere = bebauen, pflügen) immer als Kampfbegriff gegenüber der Zivilisation gesehen. Unter Zivilisation (Rom und die westli-che Welt) verstand man im preußisch-protestantisch geprägten Deutschland immer die Orien-tierung an Lebensgenuß, an Verfeinerung des Lebens, an äußerlichen Formen, an Profit und Gewinn im Himmel und auf Erden. Dagegen wurde die deutsche Innerlichkeit gesetzt. Im Dritten Reich wurde dann das heldische, an Zucht, Ordnung und Disziplin und innerlicher Reinheit orientierte geistige Ariertum gegen das nur an materiellen Werten orientierte Juden-tum (Kapitalismus und Kommunismus) als Retterin und Erlöserin gesetzt. Die Welt wird nach Hitler, Rosenberg, Göbbels durch die Gier und das Raffertum des Judentums kulturell, wirtschaftlich, politisch und religiös zersetzt. Ohne das preußisch - protestantische Elitebe-wußtsein wären die Schlachten Friedrich des Großen gegen Österreich im Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland, die siegreichen Schlachten Wilhelm I. und die verlorenen Schlachten Wilhelm II. im Kampf um die Vorherrschaft in Europa und die Schlachten Hitlers im Kampf um die Weltherrschaft nicht möglich gewesen.

Mit dem Ende des 30igjährigen Krieges kam es zum politischen Erwachen Preußens. Der preußisch-protestantische Geist – inkarniert im preußischen Offizierscorps und in der preußi-schen Beamtenschaft - beherrschte von da an die deutsche Geschichte bis zum Ende des II. Weltkrieg – dem Untergang Preußens. Zunächst eroberte Preußen nach vielen Schlachten gegen Österreich die Vorherrschaft innerhalb Deutschlands und erstrebte nach der endgülti-gen Niederlage Österreichs 1866 in Königgrätz und nach dem Sieg über Frankreich und der dann 1871 erfolgten Gründung des heiligen evangelischen Reichs deutscher Nation – in be-wußter Abgrenzung zum heiligen römischen Reich deutscher Nation - die Vorherrschaft in Europa. Der Sieg der preußischen Heere in Königgrätz und dann in Sedan, waren für die eu-ropäische Geschichte verhängnisvoll. Durch die Ausschaltung von Österreich und Frankreich als Großmächte hoffte das preußisch-protestantische Deutschland zusammen mit England endlich die Vorherrschaft über die katholische Welt zu erringen. In dem „heiligen evangeli-schen Reich“ von Wilhelm I. und Wilhelm II. gab es von vornherein keinen Platz für Juden, Katholiken und Sozialisten. Bis 1918 wurden die Angehörigen dieser Gruppen von allen lei-tenden Funktionen in Politik, Militär, Verwaltung ausgeschlossen. Wie der Historiker Fischer in umfangreichen Studien nachwies, war es das Ziel des vom protestantisch-preußischen Geist beherrschten Militärs und Kaiser Wilhelms II. – dem Oberhaupt der Protestanten – die Vor-herrschaft im Westen und Osten Europas zu erringen. Jede Vermittlungsbemühung von Bene-dikt XV. nach dem ins Stocken geratenen deutschen Angriff, der nur durch den Aufwand aller Kräfte der französischen Gesellschaft ermöglicht wurde, wurde vom preußischen Militär und Kaiser Wilhelm II. als papistische Einmischung in den Wind geschlagen. Der Papst wurde nur unter dem Aspekt wahrgenommen, die Interessen Frankreichs und damit die Interessen des Westens, der westlichen Zivilisation, zu vertreten. Benedikt XV. sprach nach dem Wende-punkt des Krieges - dem Wunder an der Somme - davon, daß Luther verloren habe. Nach ei-nem militärischen Erfolg wie 1871 in der Schlacht von Sedan wäre nach 1918 in Versailles nicht die Gründung des deutschen Reichs erfolgt, denn die war bereits 1871 in Versailles er-folgt, sondern in Versailles stand dann die Gründung eines angestrebten europäisch-kontinentalen Großreiches unter deutscher Führung bevor. Es ging dem preußischen Militär und Kaiser Wilhelm II. um die Vorherrschaft in Europa. Der Historiker Fischer hat durch sein Studium der Kriegsziele der Deutschen Heeresführung klar heraus gearbeitet, daß es um den Griff nach der Weltmacht ging. Denn neben der Vorherrschaft in Europa strebte das preußi-sche Militär auch ein großes Kolonialreich in Afrika an. Ähnliche Ziele hatte die Militärfüh-rung auch im II. Weltkrieg (Der Afrikafeldzug sollte einerseits das Tor zu den Ölquellen in Arabien und Persien sein und die Juden aus Palästina entfernen und andererseits das Tor zu afrikanischen Kolonien sein).

In der Weimarer Republik erhielten die im Wilhelminischen Kaiserreich politisch diskrimi-nierten Juden, Katholiken, Sozialisten alle politischen Rechte und nicht umsonst waren es Vertreter dieser Gruppierungen, aus deren Reihen dann auch die meisten Regierungen gebil-det wurden und die die Weimarer Republik unterstützten. Die alten Eliten des Kaiserreiches lehnten die Republik ab, waren von der Dolchstoßlegende überzeugt und unterstützten die DNVP und später die NSDAP. Die Protestanten standen in ihrer Mehrheit der Weimarer Re-publik skeptisch gegenüber, sehnten sich nach dem Landeskirchentum und dem Kaiser Wil-helm zurück und erhofften von den national-konservativen Kräften und später von der brau-nen Bewegung den Sieg über die verhaßte Republik. Die Mehrheit der evangelischen Wähler, Pastoren, Bischöfe und Theologen unterstützte zuerst die DNVP und später die NSDAP, wie aus den Wahlanalysen von Jürgen Falter klar hervorgeht. Ohne das antirepublikanische, anti-semitische, antirömische und antiwestliche Potential der evangelischen Bevölkerung wäre Hitler durch freie Wahlen nie an die Macht gekommen. Im katholisch geprägten Bayern er-kannte bei der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933 ein einfacher Polizist, wie der Vater von Josef Ratzinger, daß dies Krieg bedeutet. Für die Protestanten war es die Freude über die totale Erneuerung Deutschlands aus dem Sumpf der Weimarer Republik.
Die Demokratie und damit das von den Franzosen den Deutschen aufoktroyierte System von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit galt der Mehrheit der Protestanten als Quelle des sittli-chen Verfalls und damit der Dekadence in allen Lebensbereichen. Das Dritte Reich sollte in Anlehnung an Joachim von Fiore die im 16. Jahrhundert ins Stocken geratene Reformation zur Vollendung bringen und an die Stelle jeglicher kirchlichen Hierarchie ein Reich des rei-nen Geistes und der reinen Innerlichkeit schaffen. Der Chefideologe der nationalsozialisti-schen Partei, der für die Curricula für alle NAPOLA Schulen und die Förderung des national-sozialistischen Geistes in der Partei zuständig war, war davon überzeugt, daß die Seele des arischen Menschen innerlich davon bestimmt ist, das Göttliche in sich selbst zu entdecken und es nicht in reiner Äußerlichkeit anzubeten wie das Judentum (Gesetze) oder die Katholi-ken (Dogma). Der Wahlspruch seines Hauptwerks „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“, das eine Auflage von über 1 Million hatte, bezieht sich auf den verehrten Meister Eckart und lau-tet: „Diese Rede ist niemand gesagt, denn der sie schon sein nennt als eigenes Leben, oder sie wenigstens besitzt als eine Sehnsucht seines Herzens.“ Im Kapitel „Liebe und Ehre“ will er zeigen, daß gegenüber der jüdischen und katholischen Drohbotschaft die Germanen bzw. In-dogermanen immer schon eine Frohbotschaft verkündet haben. Der freie Germane weiß nach Rosenberg das Göttliche in seiner Seele. Er hat rassisch nach Rosenberg eine adelige Seele, wohingegen der Jude eine an materiellen Dingen und Interessen orientierte Seele hat, mit der er die ganze Welt vergiften und entarten will. Deshalb kommt es nach ihm im Dritten Reich vor allem darauf an, die wahren Quellen des arischen Indogermanentums wieder freizulegen und sich von allen Vergiftungen des Judentums und Christentums zu lösen: von dem Mythos der Stellvertretung Gottes auf Erden, von der Idee des priesterlichen Männerbundes, der Prie-stervergötterung, von dem Sakrament als zauberhaften magischen Materialismus, vom Zwangsglauben vom Ablaß und seinem händlerischen Untergrund, von der kirchlichen Für-bitte als zauberhafte Handlung, vom Papst als Typus des Medizinmanns, von der Verschie-bung der Verantwortung der Menschen für ihr Handeln durch den Kreuzestod Jesu, vom je-suitischen Kadavergehorsam. Luthers Großtat war es nach ihm, die Germanen vor dem Ver-sinken in den katholischen Lamismus bewahrt zu haben. Und dagegen wird das Preußentum gesetzt mit seiner Idee der Pflichterfüllung und Treue. Die deutsche Wiedergeburt kann nach ihm nur gelingen, wenn der oberste Wert wieder die Treue ist. Nicht umsonst hieß der Wahl-spruch der SS - bei dem Initiationsakt in der Wewelsburg -: Meine Ehre heißt Treue. Nach-dem Rosenberg im Nürnberger Kriegsverbrecherpozess zum Tode verurteilt wurde, erhob er sein Haupt und bekundete seine Überzeugung, daß die Welt im Sumpf der jüdisch verderbten Seele versinken werde, wenn sie nicht durch den Kampf der deutschen Seele um innerlich-seelische Reinheit bewahrt wird.

Im Gegensatz zur evangelischen Kirche, von der die Mehrheit aller Pfarrer Mitglieder der NSDAP waren und diese zum Teil auch mit großer Begeisterung unterstützten, gab es seit 1928 in der katholischen Kirche einen Nichtvereinbarungsbeschluss: jeder Pfarrer, welcher der NSDAP beitrat wurde vom Dienst suspendiert. Und gegen die rassistische Ideologie ver-fasste Pius XI. 1936 die in deutscher Sprache verkündete Enzyklika „Mit brennender Sorge“.

Nach der Machtergreifung Hitlers erschallten in allen evangelischen Kirchen die Glocken, brachen die evangelischen Massen in Jubel aus und betrachtete die Mehrheit der Protestanten in Hitler den Erlöser und Erretter Deutschlands. Die Katholiken unterstützten das Zentrum und standen in ihrer Mehrheit der braunen Bewegung weitgehend distanziert gegenüber wie auch die Mehrheit der Arbeiterschaft, die die kommunistische oder die sozialdemokratische Partei unterstützen.

Nach dem II. Weltkrieg bemühten sich die leitenden Bischöfe und Synodalen bei den Militär-behörden darum, nur ja keinen Pastoren, Bischöfe und Theologen zu belangen, oder gar vor Gericht zu stellen und zu bestrafen. Innerlich reinigte sich die evangelische Kirche nicht von der Vergangenheit, sie leitete keinerlei Lehrzuchtverfahren gegen Pfarrer, Theologen und Bischöfe ein, die bis zum Schluss von dem berechtigten Kampf Deutschlands gegen Juda und Rom zutiefst überzeugt waren. Den hochrangigen Vertretern der evangelischen Kirche ging es nur um die Erhaltung ihrer Stellung und vor allem der weiteren Anstellung und damit Bezah-lung ihrer im Pfarrdienst tätigen Mitarbeiter. Es wurde nach dem II. Weltkrieg gegen keinen evangelischen Theologen, Pfarrer oder Bischof ein Lehrzuchtverfahren eingeleitet, der Hitler an den Erlöser betrachtete. Es kam sogar vor, daß manche Pfarrer der Deutschen Christen statt auf Jesus Christus die Kinder auf Hitler tauften. Kein evangelischer Pfarrer erhielt nach dem II. Weltkrieg ein Disziplinarverfahren. Das einzige Lehrzuchtverfahren, das nach dem II. Weltkrieg eingeleitet wurde, war ein Verfahren gegen Pfarrer Baumann aus Baden-Württemberg, der es wagte, die Stelle „Du bist Petrus und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen“ für authentisch zu halten und damit hoffte, daß durch die Anerkennung des Papsttums nach 500 Jahren Spaltung endlich eine Rückkehr zur Einheit der Kirche ermöglicht würde.

Nachdem die Mehrheit der evangelischen Pastoren, Bischöfe und Theologen im Osten Deutschlands (dort mehr aus Zwang und durch Unterwanderung der Konsistorialräte und De-kanatssekretäre durch den Staatssicherheitsdienst) und im Westen (freiwillig durch den Glau-ben an den weltweiten Sieg des Sozialismus) ihr Mäntelchen nach dem Wind gehängt hatten und nun nicht Nationalsozialismus, sondern im Sozialismus das Heil sagen, gab es nach 1989 – dem Fall des Kommunismus – auch keinerlei Bestrebungen, gegen Theologen, Bischöfe und kirchliche Mitarbeiter ein Lehrzuchtverfahren einzuleiten, die Jesus Christus als Befreier aller Unterdrückten feierten und die christliche Botschaft in eine sozialistische Botschaft uminterpretierten.

Und heute, wo Jesus Christus und seine Worte als Grundlage für die feministische und ökolo-gische Bewegung in Anspruch genommen wird, erhebt sich wiederum in der evangelische Kirche niemand, um gegen irgendeinen Pastor, Bischof oder Theologen ein Lehrzuchtverfah-ren einzuleiten, der für die Abschaffung des „Vater unser“ und die Ersetzung durch „Mutter unser“, für die Segnung von homosexuellen Paaren, für die Abtreibung oder Euthanasie oder die Embryonenforschung einsetzt.

Deutschlands Identität kristallisierte sich in der Neuzeit durch den von Martin Luther eröff-neten Kampf gegen „Juda und Rom“ heraus. Seit dieser Zeit betrachtet sich erst Wittenberg und später Berlin als das Zentrum des neuen auserwählten Volkes. Den Gipfel dieses Hoch-muts wurde dann 1933 erreicht und die Mehrheit aller evangelischen Christen konnten sich mit Hitlers Devise identifizieren, daß es nicht zwei auserwählte Völker auf der Erde geben kann. Da dem Judentum die ganze moderne Dekadenz, der moderne materialistische Geist (Kommunismus und Kapitalismus), die moderne rein an der Machbarkeit ausgerichtete Tech-nologie zugeschrieben wurde, sahen sich die meisten als Auserwählte an, gegen dieses Reich des Materialismus ein Reich des Geistes, des deutschen Geistes der Innerlichkeit, Reinheit und Authentizität entgegenzusetzen, das nicht vom jüdisch-materialistischen bzw. und rö-misch-materialistischen Geist infiziert ist, sondern sich durch eigene Kraft aus seiner eigenen Seele erhebt und damit – wie der Chefideologe des Nationalsozialismus Alfred Rosenberg im Vorwort zu seinem berühmten Buch „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ (1932) sagte – end-lich zu seiner eigenen Identität zurückfindet. Alfred Rosenberg stellt seinen Betrachtungen über die seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit“ das Motto von Meister Eckart vor-an: „Diese Rede ist niemand gesagt, denn der sie schon sein nennt als eigenes Leben, oder sie wenigstens besitzt als eine Sehnsucht seines Herzens“.

Ja, das ist typisch für Deutschland und seine Geschichte. Seit der Reformation wird Deutsch-land vom evangelischen Geist beherrscht und auch solche, die sich wie Apel und Hahne von den offiziellen Stellungnahmen der EKD distanzieren, würden nie bereit sein, sich dem Papst zu unterwerfen. Einigung Europas kann es nur geben, wenn die durch die Reformation her-vorgerufene Spaltung in Deutschland überwunden wird. Vielleicht besteht nach der politi-schen Niederlage der preußisch-protestantisch-militaristischen Kultur heute, nachdem der Papst ein Deutscher ist, eine gewisse Chance der Vereinigung. Dem protestantischen Geist entstammende deutsche und international anerkannte und führende Philosophen wie Sloter-dijk sowie Habermas nehmen in Anspruch wie seit Luther alle den deutschen Geist und die deutsche Kultur beherrschenden Geister, daß auch nach 500 Jahren die protestantische Kultur in Deutschland meinungsführend sein müsse und daß jede Rückkehr zu Rom (zur Metaphy-sik, zum Naturrecht) verhindert werden müsse.

Diese Meinungsführer und die sich als Avantgarde verstehende intellektuelle Elite, vergißt allerdings, daß der Kampf gegen den jeweiligen Zeitgeist, sei es die kommunistische , natio-nalsozialistische und feministische Ideologie - konsequent nur von Seiten des Papstes und der katholischen Kirche geführt worden ist und geführt wird. Die radikale Entgegensetzung von den Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, von den Interessen von Frauen und Männern, von den Interessen von Ariern und Nichtariern wurde von den führenden Vertretern des deutschen Geistes immer im Sinne eines sich ausschließenden Antagonismus begriffen. Daher resultiert die fast religiös aufgeladene und zu einem weltgeschichtlichen Endkampf hochstilisierte Form der Auseinandersetzung. Überall in Europa wurde die Frage der Unter-drückung von Arbeitern, Frauen, Angehörigen ethnischer Minderheiten thematisiert, aber in keinem Land wurde diese Auseinandersetzung mit der Besessenheit und religiösen Glut, mit der Ausschließlichkeit und Konsequenz geführt wie in Deutschland. Hier ging es seit der Re-formation immer gleich um einen weltgeschichtlichen Kampf zwischen Christ und Antichrist, in dem allein dem deutschen Geist die auserwählte Führungsrolle zugesprochen wird. Und was die Radikalität der kommunistischen, der nationalsozialistischen und der feministischen Ideologie betrifft, ist Deutschland nicht zu überbieten. Ja, die meisten Ideologen und Wurzeln dieser radikalen pseudoreligiösen Ideologien haben hier ihren geistigen Ursprung.

Wer nicht länger in Deutschland gelebt hat, kann nicht dieses geistig aggressive unerträglich extremistische Klima der geistigen Auseinandersetzung verstehen. Nach dem Rassenwahn und Klassenwahn folgt nun der feministische Wahn. Nicht umsonst gibt es nur in Deutschland die einzige große feministische Zeitung „Emma“, in der wöchentlich die Menschen mit dieser Ideologie berieselt werden. Die deutsche Bevölkerung wurde während der Zeit der braunen und roten Diktatur jeden Tag von ideologischen Verblendungen überschwemmt. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. War es im Nationalsozialismus politisch korrekt, für die Tötung von Juden sich einzusetzen, im Kommunismus politisch korrekt sich für die Tötung der Konterrevolutionäre einzusetzen, so ist es nun in der Phase der Vorherrschaft der femini-stischen Ideologie politisch korrekt, sich für die Tötung ungeborener Kinder im Mutterleib einzusetzen. Beruhte der Völkermord an den Juden auf Argumenten des Schutzes des Rechtes der deutschen Rasse auf Reinerhaltung, die Ermordung der Konterrevolutionäre auf dem Ar-gument des Schutzes der Rechte der Arbeiterklasse vor Unterdrückung, so geschieht die Tö-tung der eigenen Kinder durch die Eltern heute in Deutschland und Europa mit Argumenten des Schutzes der Frauenrechte. Die wenige Journalisten und Politiker, die es heute wagen, politisch unkorrekt diese Hundertausendfache jährliche Tötung von ungeborenen Kindern im Mutterleib zu kritisieren, werden von der führenden Mehrheit der Medien als finstere Funda-mentalisten geschmäht. Sieht man von der kleinen Schar der Evangelikalen ab, die als Fun-damentalisten gelten, so ist die überwiegende Mehrheit der Protestanten in Deutschland heute mit der Praxis der Abtreibung einverstanden.

Wenngleich auch in der deutschen nationalsozialistischen und der sowjetisch internationalso-zialistischen Diktatur auf manches Positive verwiesen werden kann, so kann aber niemand heute mehr die Unterdrückung der Freiheit und die millionenhafte Tötung Unschuldiger über-sehen. Ebenso kann die positive politische und wirtschaftliche Entwicklung im heutigen Eu-ropa nicht darüber hinwegtäuschen, daß der neu sich anbahnende Diktatur des Relativismus, von der Papst Benedikt XVI. seit Beginn seines Pontifikats spricht, Millionen Opfer darge-bracht werden. Es ist immer leicht auf die Opfer der Anderen zu verweisen, dabei aber zu vergessen, daß neben der Erhöhung des Wohlstands und der Freiheit aller Bürger nach dem II. Weltkrieg heute auch wieder dem Zeitgeist Millionen unschuldiger Opfer dargebracht wer-den, von denen heute genauso wie zu Zeiten der totalitären Diktaturen die Mehrheit der Be-völkerung nichts wissen will und sie stillschweigend akzeptiert.

Für uns heute Lebenden aber ist allein entscheidend, was wir für Untaten begehen. Und diese Untaten werden heute von allen – auch den Medien und Politikern – mit einem Tabu belegt, da die Untaten genauso wie in den Diktaturen mit dem Schein des Rechts umnebelt sind. Nach Meinungsumfragen wird der Beratung und ihrer Bescheinigung in Deutschland nicht nur strafbefreiende, sondern rechtfertigende Wirkung beigemessen, worin sich ein für den Lebensschutz Ungeborener verheerender und unaufhaltsamer Verfall des Rechtsbewusstsein offenbart. Die Rechtsstellung des Kindes wurde immer weiter dadurch verschlechtert, daß auch im Laufe der parlamentarischen Beratungen die Interessen der schwangeren Frau in den Mittelpunkt der Aufmerksam gerückt wurden. Herbert Tröndle, der bekannte Strafrechtler, der seit Jahrzehnten sich kritisch mit dem Beratungskonzept beschäftigte, kommt in seinem neueste Beitrag – der Festschrift für Harro Otto – zu dem vernichtenden Urteil:

„Ideologisch besetzte Standpunkte beherrschen unsere zukunftsvergessene Gesellschaft offen-bar an Haupt und Gliedern. Emanzipatorische Vorstellungen sind auf Abwege geraten, wo der Rechtsstaat partiell verleugnet wird, der Sozialstaat, der nur mit Mitteln des Rechtsstaa-tes verwirklicht werden kann, selbstzerstörerische Züge annimmt und selbst vor blanker Un-vernunft nicht Halt macht. Oder soll es etwa als vermeintliche ‚soziale Errungenschaft‘ auch künftig irreversibel bleiben, daß unsere kinderarme Gesellschaft ihre sozialstaatlichen Mittel und alljährlich Millionenbeträge aus der zerrütteten Staatskasse weiterhin dafür verwendet, um Hunderttausende ungeborener Kinder am Weiterleben zu hindern, auf diese Weise kom-mende Generationen existentiell in ihrer Lebensgrundlage zu schädigen und sich selbst für eine ausreichende Altersversorgung außerstand zu setzten. Das Beratungsschutzkonzept gibt eben nicht nur den Lebensschutz Ungeborener preis.“
Herbert Tröndle, Das ‚Beratungsschutzkonzept‘, in Festschrift für Harro Otto, Tübingen 2007, 842)

Wenn es eine neue Verfassung geben soll, dann eine, die das Recht auf Leben von Beginn bis zum Ende des Lebens schützt. Dazu bekennt sich aber in Europa nur eine kleine Minderheit, vor allem die letzten Päpste in ihren verschiedenen Enzykliken. Eine Verfassung hätte nur einen Sinn, wenn dieses Grundrecht jedes Menschen gesichert und damit die Basis aller Rechtsstaatlichkeit gesichert werden würde. Europa kann sich nur dann zu einer politischen Einheit entwickeln, wenn es eine Rechtsgemeinschaft ist, der das Grundprinzip gilt, daß das Leben und die Rechte aller Bürger geschützt sind. Da die vorgeschlagene und ausgearbeitete Verfassung auf diesen Grundkonsens nicht eingeht, kann sie auch nicht Grundlage eines Eu-ropas sein, das stolz auf seine Tradition und die Erklärung der Menschenrechte ist. Man kann über alle Details der Verfassung diskutieren und versuchen, Kompromisse zu erreichen. Aber über eines sollte es nie einen Kompromiß geben, darüber nämlich, daß es für jeden Menschen unveräußerliche Rechte gibt und daß es nie gerechtfertigt ist, einen Unschuldigen zu ermor-den – sei er geboren oder ungeboren. Solange Europa nicht zurückfindet zu diesem Grund-konsens, kann es keinen Neubeginn geben.

Die Spaltung Europas hat ihren Ursprung in der deutschen Reformation durch Martin Luther und die Einigung Europas kann nur wieder hier in der Mitte Europas geheilt werden. Und das gelingt nur, wenn der ewige Kampf Deutschlands gegen „Juda und Rom“ aufhört. Das kann aber nur gelingen, wenn der deutsche Geist zu dem Geist zurückkehrt, aus dem das christliche Abendland entstanden hat: einem Geist, in der Glaube und Vernunft, Natur und Gnade, sicht-bare und unsichtbare Kirche, Tradition und Schrift, Philosophie und Theologie nicht ausein-andergerissen, sondern zu einer Einheit geführt werden. Die europäische politische Einigung wird nur dann gelingen, wenn es eine geistige Einigung gibt. In der Regensburger Rede hat Benedikt XVI. dazu einen Anfang gemacht und deutlich darauf hingewiesen, daß die Einheit Europas durch die drei Enthellenisierungen verloren gegangen ist. Da der Geist Europas nicht mehr in der Metaphysik und dem Naturrecht verankert ist, kann auch keine Rechtsgemein-schaft entstehen, in der es immer als Unrecht gilt, einen Unschuldigen zu töten (seien es Ju-den, Konterrevolutionäre, ungeborene Kinder oder schwer behinderte und schwerkranke Menschen. Der Eintritt in die Rechtsgemeinschaft kann nie durch Kooptation oder durch Zu- oder Abschreibung einer parlamentarischen Öffentlichkeit geschehen, weil jeder Mensch von der Zeugung an bis zum Tod ein Jemand und nicht ein Etwas ist.

„Wo Tötung von unschuldigem Leben zu Recht erklärt wird, wird Unrecht zu Recht gemacht. Wo Recht menschliches Leben nicht mehr schützt, ist es als Recht in Frage gestellt. Solches zu sagen bedeutet nicht, christliche Spezialmoral in einer pluralistischen Gesellschaft allen an-deren aufdrängen zu wollen, hier geht es um die Humanität, um die Menschlichkeit des Men-schen, der nicht das Zertreten der Schöpfung zu seiner Befreiung erklären kann, ohne sich zutiefst selbst zu betrügen. Die Leidenschaft des Streits, der hier geführt wird, liegt an der Tiefe der Frage, um die es geht: ist der Mensch erst frei, wenn er sich von der Schöpfung los-gekettet und sie als seine Versklavung hinter sich gelassen hat? Oder hat er gerade dann sich selbst negiert?“
Ratzinger, Mitarbeiter der Wahrheit, 15.2., S. 60)

Deutschlands kulturelles Leben ist von Luther bis heute zutiefst vom protestantischen Geist durchdrungen und verhext. Nur wenn sich Deutschland vom Ungeist des Protestantismus löst, ist meines Erachtens eine Heilung Europas in Sicht. Erst wenn der deutsche Geist sich gelöst hat vom Kampf gegen „Juda und Rom“ und zur Einheit zurückfindet, wird Europa seine Identität zurückfinden, die es durch Luther verloren hat. Das bedeutet ein Stückweit die Rücknahme der durch den deutschen Geist vollzogenen Enthellenisierung und eine Rückkehr zur Akzeptanz, daß der römische Geist eine unwiederbringliche Synthese von griechischem Geist und jüdischer Offenbarung zustande gebracht hat. Aber der Weg dorthin scheint weit zu sein. Selbst diejenigen, die sich von der offiziellen EKD abgewandt haben – wie z. B. Hans Apel und Beyerhaus – kehren nicht zur katholischen Kirche zurück, sondern wenden sich freikirchlichen oder evangelikalen Gemeinschaften zu. Auch das bekannte EKD Ratsmitglied Peter Hahne schätzt zwar Papst Benedikt XVI., da er unbeugsam dem Zeitgeist wie auch er widersteht, würde aber nicht seine Knie vor ihm beugen. Vielleicht zeigt sich in der Gebärde des Kniens mehr als nur eine formale äußere Geste, was in der Äußerung Hegels zum Aus-druck kommt, der das Wesen des Protestantismus damit umschrieb, daß das Wesen des Prote-stanten darin besteht, daß er nicht kniet, sondern allein auf sich gestellt, sich vor Gott bewäh-ren muss.

Der Mitte Europas entsprang die Spaltung Europas und diese äußere Spaltung entsprang dem zerrissenen Herzen Martin Luthers. Es gibt kein besseres Beispiel für die Erfahrung, daß nur diejenigen Menschen Streit anfangen, die in sich selbst zerstritten sind. Und Europa bis heute in sich selbst zerstritten. Eine Einigung Europas gelingt nur, wenn man wieder zur Synthese von Athen (griechische Metaphysik) , Jerusalem (jüdische Offenbarung) und Rom (Synthese von Glauben und Vernunft) zurückfindet.




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