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Braucht die EU eine Verfassung?


08.02.2007 - 01.30 Uhr

Viel Senf zu allen Themen

baumann (Pseudonym)

Zunächst einmal herzlichen Dank an das Deutschlandradio, die mit diesem Blog etwas Außergewöhnliches erreicht: einen Dialog zwischen Europaskeptikern und Europafreunden, zwischen Halbprofis (Juristen mit Schwerpunkt Staatsrecht) und völligen Laien. Es fehlen noch die Bürokraten und die Politiker aus EU, Bundesebene und Ländern. Vielleicht sollte man den einen oder anderen ermutigen?
Viel Richtiges wurde inzwischen bereits gesagt. Es bilden sich offenkundig einige Schwerpunkte der Diskussion heraus, die ich gerne aus der Sicht eines seit langem interessierten Laien kommentieren möchte.
Sehr beeindruckt hat mich, dass es tatsächlich Beiträge gab, die Details des Vertrages analysierten und versucht haben, Widersprüche und Unzulänglichkeiten aufzudecken. Obwohl ich mich mit solchen Themen hobbymäßig jahrelang beschäftigt habe, kann ich die Richtigkeit und Wichtigkeit dieser Aussagen nicht richtig beurteilen. Die 99% der Bevölkerung, die nie gelernt haben, in diesem Mustern zu denken, haben erst recht keine Chance.
Unter diesen Bedingungen ist mir auch nicht klar, warum viele der Blogger so versessen darauf sind, eine Volksabstimmung durchzuführen. Wenn wir unserer staatstragenden Verantwortung gerecht werden wollten, müsste sich ja jeder Bürger intensiv mit dem Thema auseinandersetzen und sich eine Meinung bilden. Selbst diejenigen, die es verstehen könnten, haben nicht die Zeit, das zu tun. Die in einem Beitrag geäußerte Forderung nach einer Kurzfassung ist verständlich, aber nicht realistisch. Das Thema ist wirklich komplex. Aber im Wahlkampf zum Referendum würde zweifellos vereinfacht. Eine beispiellose Einladung an alle Demagogen. Und dabei soll eine gute Entscheidung herauskommen?
Ich bezahle mit meinen Steuergeldern, Repräsentanten, die die Zeit haben, sich solcher Themen ausführlich anzunehmen (jedenfalls theoretisch). Übrigens: auch wenn man die direkte Demokratie in der Schweiz nicht öffentlich in Frage stellen darf, stöhnen viele Schweizer privat darüber, dass das System eigentlich gar nicht funktioniert. Fast drei viertel der Stimmbürger bleiben regelmäßig zu hause. Und mit welcher Motivation der Rest an die Urnen geht und seine Kreuze verteilt, traut sich kaum einer vorherzusagen. Das ist mehr russisches Roulette als Demokratie.
Sehr oft wird der Umfang dieser Verfassung kritisiert. Wahrscheinlich war die Bezeichnung „Verfassung“ für das Werk nicht glücklich gewählt. Wir stellen uns unter eine Verfassung eine allgemeine Beschreibung des Wertesystems einer Gesellschaft, seiner politischen Organe und ihrer Beziehungen zueinander vor. Das Ganze passt auf ein paar Seiten und ist dabei sogar einigermaßen allgemeinverständlich. Die Juristen suchen zudem sofort nach Staatsgebiet und Staatsvolk und bekommen Definitionsprobleme.
Die Europäische Verfassung ist kein dünnes Heft und auch nicht allgemein verständlich und sie passt nicht in die althergebrachten juristischen Raster. Dabei muss man aber sehen, dass die Verfassung nicht als völlig neues Dokument entsteht. Viele Juristen sprechen davon, dass die Europäische Union bereits heute eine Verfassung hat. Sie besteht aus dem ganzen Sammelsurium von Verträgen, die in den letzten 6 Jahrzehnten geschlossen wurden. Dieses Dickicht ist noch viel größer und undurchdringlicher. Ziel der „Verfassung“ war es, dieses Wirrwarr in ein überschaubareres Dokument zusammenzufassen und gleichzeitig Einiges zu verbessern, was derzeit schlecht läuft. Wenn man diese Meßlatte anlegt, springt die Verfassung nicht mehr so weit drunter durch.
Ein zentrales Problem bei der Kürzung des Textes liegt im Aufbau der EU. Einige Beiträge haben eine fehlende Vision der EU bemängelt. „Sagt mir, wo wir hingehen, und ich sage Euch, ob ich mitgehen will.“ So denke ich auch.
Nach der visionären Euphorie der ersten Nachkriegsjahre waren insbesondere die endlosen Diskussionen um die Agrarpolitik für Europa lähmend. Die Kriegsgefahr war aus den Köpfen verschwunden und das Friedensprojekt Europa wurde bestenfalls noch halbherzig verfolgt. Fortschritte kamen nur in Trippelschritten. Spätestens seit dem Umbruch in Osteuropa hätten die Europäer eine Vision auf den Tisch legen müssen. Aber in Europa haben nach wie vor die nationalen Mitgliedsstaaten das Sagen. Der Bock ist Gärtner. So pflegt jeder sein eigenes Bild von Europa, das mit allen anderen nicht zusammenpasst. Es gibt nicht eine Vision, sondern Dutzende.
Gemeinsam ist ihnen, dass nationale Kompetenzen nicht beschnitten werden dürfen, es sei denn man wäre zu unpopulären Maßnahmen gezwungen, für die man dann die Verantwortung einfach nach Brüssel abschieben kann. Außerdem werden gerne Politiken vergemeinschaftet, die erwarten lassen, dass man besonders viele Mittel aus Brüssel ins eigene Land lenken kann. Und solche, bei denen man eine Behörde der EU ins eigene Land holen kann, was Arbeitsplätze schafft und ein Macht demonstriert. Das ist Kirchturmspolitik ohne Vision.
Der Umfang der Verfassung wird in mehreren Beiträgen als Entsprechung zur überbordenden Bürokratie aus Brüssel gesehen. Die Bürokratie ist eines der Lieblingsthemen der Europakritiker und wird selten differenziert betrachtet. Wenn Sie denken, dass zu viele Bürokraten in Brüssel arbeiten, dann besorgen Sie sich doch mal das Telefonbuch der Stadtverwaltung ihrer Landeshauptstadt. Das ist auch nicht dünner als das Telefonbuch der Kommission. Allerdings arbeiten weniger Gärtner und Müllfahrer dort, sondern mehr hochqualifizierte Juristen, so dass das Gehaltsgefüge nicht vergleichbar ist.
Wenn wir von der Brüsseler Regelungswut reden und darüber dass ständig lächerliche Dinge normiert werden, müssen wir einerseits zur Kenntnis nehmen, dass zum einen mit Normen Industriepolitik gemacht wird, die die Wettbewerbsbedingungen zwischen Unternehmen verschiedener Länder massiv verschieben kann, und zum anderen die Anregungen für Verordnungen meist aus den Mitgliedsstaaten kommen. Und dabei müssen wir feststellen, dass weit mehr als die Hälfte aller Normierungsverordnungen auf Initiativen aus Deutschland zurückgingen. Ich will die Bürokratie in Brüssel nicht schön oder klein reden, aber der Schuldige sitzt leider nur allzu oft in Berlin, spielt den Unschuldigen und kommt damit durch, weil die kritischen Medien das Spiel nicht durchschauen. Die Bürokratie ist unabhängig von der Verfassung, also hier auch kein Gegenargument.
Sehr umstritten ist offenbar auch die Frage der Legitimität in allen Facetten. Und tatsächlich führt die komplizierte Verteilung der Kompetenzen zwischen Kommission und nationalen Bürokratien, Ministerrat und nationalen Regierungen, sowie Europaparlament und nationalen Parlamenten zu einem Durcheinander, in dem Legitimation nicht klar lokalisierbar ist.
Dürfen nationale Regierungen auf europäischer Ebene multilaterale Verträge schließen oder multinationalen Bündnissen beitreten? Dürfen nationale Parlamente solche Akte der Regierungen ratifizieren? Natürlich. Aber haben die Wähler nationale Parlamente und Regierungen beauftragt, europäische Gesetze zu machen und Europa zu verwalten? Das erscheint mir nicht selbstverständlich? Ist die Europäische Kommission hinreichend legitimiert, Europa zu verwalten, wenn sie von nationalen Regierungen vorgeschlagen und ernannt wurden, wozu deren Wähler sie nicht ausdrücklich mandatiert hatten? Und kann dieser Mangel durch die Bestätigung seitens des Europäischen Parlaments geheilt werden? Schwer zu sagen. Warum nehmen die Bürger Europas es hin, dass das einzige Organ, das der Souverän in Europa explizit legitimiert hat, von den nationalen Staats- und Regierungschefs ans Gängelband gelegt wird? Ich behaupte übrigens nicht, dass das Europaparlament machtlos ist. Es ist nur an Händen und Füßen gefesselt. Das macht es schwerer, aber das EP hat gelernt damit umzugehen. Dennoch gehören die Fesseln weg. Es wäre Zeit, aus den Räten eine zweite Kammer zu machen und das Parlament zur ersten Kammer zu machen. Die Verfassung bietet in dieser Hinsicht leider wenig. Gegenüber dem heutigen Zustand wird es aber besser.
Muss eine Verfassung unbedingt vom Volk erwählt werden? Klingt theoretisch logisch. Aber das deutsche Grundgesetz wurde auch nicht per Referendum angenommen. Das dürfte auch für die meisten Landesverfassungen der Bundesländer gelten. Die Länderverfassungen kennen die meisten Bürger gar nicht, was sicher an deren nachgeordneter Bedeutung im Verhältnis zum Grundgesetz liegt. Es regt sich aber auch kein Protest gegen diese Verfassungen. Das Grundgesetz ist von den Bürgern voll akzeptiert und wird als außerordentlich erfolgreich wahrgenommen. In der Praxis erweist sich die Frage nach einem Referendum zur Annahme einer Verfassung als eher nebensächlich. Sie ist eher ein Ausdruck deutschen Grundsatzdenkens.
Viele Menschen machen sich auch Sorgen um den Verlust ihrer Identität. Warum? Haben Schwaben und Ostfriesen ihre Identität zugunsten einer einheitlichen deutschen Identität aufgegeben? Wir schaffen es doch schon lange, lokale, regionale und nationale Identität nebeneinander zu haben. Obendrauf gibt es dann noch die europäische Identität. Warum soll das die anderen Identitäten bedrohen? Sicher muss man in einem großen Gebilde darauf achten, dass die „Kleinen“ nicht unter die Räder kommen, dass Minderheiten Freiräume haben. Andererseits wird das aber auch einfacher, je größer die Union wird: sogar die Größten sind dann gegen den Rest ziemlich klein. Die Arroganz der Macht würde sich gegen sie wenden. Sie sind zu Kooperation und Ausgleich verdammt. Und sollten sich im Laufe der Zeit die Kulturen etwas angleichen, weil sich die Lebensumstände angleichen, hat das mit Gleichmacherei nichts zu tun, sondern mit einer natürlichen Reaktion lebendiger Gesellschaften auf Änderungen der Rahmenbedingungen.
Ein ganz wichtiger Hinweis ist der nach der fehlenden europäischen Öffentlichkeit. Das dies nach über 50 Jahren europäischer Einigung noch immer überhaupt nicht funktioniert macht mich sehr nachdenklich und traurig. Es ist einfach erschreckend, wenn man merkt, wie wenig Politiker in Parlamenten und Regierungen von Europa wissen. Es gibt großartige Korrespondenten in Brüssel und Straßburg, die nur selten Beiträge veröffentlichen, weil die Chefredakteure die Themen nicht begreifen und sie als unwichtig abstempeln. Weder die Regierungen noch die Parlamente noch die Medien sind in Europa vernünftig untereinander vernetzt. Wenn wir über Europa reden, dann tun es alle (auch wir Bürger) fast ausschließlich aus der nationalen Sicht. Wir geben uns gar keine Mühe, die Sicht der anderen kennen und vielleicht auch schätzen zu lernen. Die Europabeauftragten in verschiedenen Ministerien von Bund und Land sind meist Alibistellen, die darauf sitzenden Personen politisch auf dem Abstellgleis gelandet. Und als ob das nicht frustrierend genug wäre, fehlt ihnen allen eines: die Information, wie es die anderen sehen.
Ich habe selbst in den Fußgängerzonen Informationen über Europa angeboten, habe Info-Artikel vor den Europawahlen in den lokalen Zeitungen platziert oder Interviews im Lokalradio gegeben. Es ist mühsam und wenig erbauend. Viele Menschen mustern den Stand interessiert und drehen sofort ab, wenn Sie das Stichwort Europa erspähen. Wenn man so jemanden später anspricht, ob er sich ausreichend zu Europa informiert fühlt, hat er kein Problem, sich bitter über das fehlende Informationsangebot zu beklagen. Dass vieles in Europa nicht so ist, wie es sein sollte, hat auch damit zu tun, dass es uns Bürgern schon lange herzlich egal ist. Aber das Desinteresse der Bürger ist weder für die Politiker noch für die Medien Ausrede genug, einfach zu schweigen. In einer immer enger vernetzten Welt sind die alten nationalen Kleinstaaten nicht die Lösung, sondern Teil des Problems. Europa ist eine Chance auf Zukunft, der Nationalstaat ist Vergangenheit, wehrt sich aber noch gegen die Erkenntnis.
Nachdem die Bürger seit Jahrzehnten Europa vor die Nase gesetzt bekommen haben, brauchen wir jetzt mutige Visionen. Wir brauchen einfache und durchschaubare Verfahren. Die bietet die Verfassung nicht. Der Status Quo bietet sie noch viel weniger. Die Verfassung konsolidiert die bestehenden Verträge und sie demokratisiert Europa ein bisschen mehr. Das ist nicht toll, aber angesichts der schwierigen Entscheidungsprozesse mit 27 Mitgliedern auch nicht so schlecht. Vielleicht sollten wir das Wort „Verfassung“ durch einen bescheideneren Begriff ersetzen, der dem Inhalt mehr gerecht wird. Und wir sollten sie schnellstens durchpauken, denn sie ist auf jeden Fall besser als das, was derzeit gilt.
Intellektuell stimulieren wird dieses Dokument nur wenige. Die Herzen der Menschen wird es überhaupt nicht erreichen. Dazu brauchen wir Visionen. Und Politiker und Journalisten, die uns davon erzählen.




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