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Braucht die EU eine Verfassung?


10.02.2007 - 01.06 Uhr

Vielen Dank für Ihre Ausführungen, Herr Baumann,

J.J.Myers (Pseudonym)

... die nach meiner Lesart das vertiefen und verbreitern, was Herr Vannahme im Eingangs-Statement bereits gesagt hat. Kurz:
- Die eigentliche Verfassung steckt in den bereits abgeschlossenen Verträgen.
- Diese sind für ein allgemeines Verständnis zu kompliziert.
- Um wenigstens eine gemeinsame Basis für die paar Leute zu haben, die sowohl zeitlich, als auch intellektuell imstande sind, die multilateralen Verträge (und auch deren neue Form in Gestalt einer etwas gestrafften "Verfassung") zu durchdringen, werden sie ein wenig redigiert, vielleicht an ein paar Stellen ergänzt - und heraus kommt die "Verfassung" als allgemein verbindliches Dokument.
- Diejenigen (also der überwiegende Anteil der Menschen in der EU), die dazu angeblich nicht in der Lage sind, dürfen sich mit anderen Symbolen (oder vielleicht den "Leadern" wie Verheugen, Pöttering oder Barroso) identifizieren - vermittelt von Journalisten.
- Zu viel Mitsprache der Bürger würde mit großer Wahrscheinlichkeit keine optimalen Entscheidungen nach sich ziehen - siehe Schweiz - weshalb wir nicht so traurig sein sollten darüber, dass die Demokratie abgeschafft wird.

Damit hätten wir eine perfekte Elite-Diktatur, wobei die "Elite" keineswegs "Meritokratie" bedeuten würde, sondern sich innerhalb kleiner Netzwerke oder Seilschaften, vielleicht irgendwann auch Familien, reproduzierte. Es gäbe über kurz oder lang eine Art Feudalismus, in dem das, was heute Industrielobby ist, und die EU-Kommission verschmölzen mit Fraktionen des EU-Parlaments (das noch immer keine Richtlinien selber formulieren darf) und großen Teilen der Regierungen, die sich im Ministerrat repräsentieren lassen. Innerhalb dieser Gremien ist die EU sehr durchlässig, nach außen hermetisch. Gestern Lobbyist, heute MdEP, morgen Kommissar - kein Problem. Dagegen wäre es sehr wohl ein Problem, als außerhalb dieses Klüngels Stehender Entscheidungen mitzugestalten - und sei man noch so zahlreich.

Das Erheben detaillierter Richtlinien und Vertragsbestandteile in den Verfassungsrang hätte nur noch den Zweck, Dissidenten innerhalb der Kreise der "Erleuchteten" daran zu hindern, gewisse Bestimmungen wie die nach der Beteiligung an militärischen "Friedensmissionen", die permanente Weiterrüstung oder die verordnete "offene Marktwirtschaft" im nachhinein zu ändern.

Die klare Alternative ist: Öffentlich tagender Verfassungskonvent, zusammen gesetzt aus demokratisch legitimierten Repräsentanten, erarbeitet Entwurf, dieser wird nach längerer (mehrjähriger) Vorbereitungszeit per Plebiszit aller EU-Bürger angenommen oder verworfen. Ob der Entwurf dann einfach oder kompliziert, lang oder kurz ist, wird man sehen. Er ist jedoch die einzige Möglichkeit, die Interessen von Bürgern, Umwelt und verschiedenen Industrien mit wichtigen Grundlagen (Menschenrechte, Gleichbehandlung, Recht auf Bildung, soziale Rechte, Solidarität unter Ländern und Bürgern) zu verknüpfen.

Schon öfter in der jüngeren Geschichte meinte man, Diktaturen könnten "effizienter" sein als Demokratien. Die meisten endeten nicht nur im moralischen, sondern auch im wirtschaftlichen Desaster oder erwiesen sich als zu statisch für notwendige Anpassungsprozesse. "Effizient" waren sie stets nur bei der Repression.




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