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PRO: Martin Winter

Grenzen um ihrer selbst willen

winter21.jpgDer Autor ist Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung" in Brüssel.

Europa hat im vergangenen Jahrzehnt von vielem Abschied genommen. Mit Freuden vom Kalten Krieg. Mit gemischten Gefühlen von der windgeschützten Nische zwischen den großen Mächten. Mit Bangen von der außen- und sicherheitspolitischen Unzuständigkeit. Und nun ist es an der Zeit, dass die EU ihre Illusion von der eigenen Grenzenlosigkeit aufgibt.

Gewiss, nach innen soll und muss die EU grenzenlos sein. Aber nach außen braucht die Union Grenzen. Nicht um eine Wagenburg zu bauen. Sondern um sich selbst zu festigen. Die gewaltige Erweiterung der EU nach Osten war nötig. Aber wenn die EU sich jetzt keine geographischen Grenzen setzt, dann schwächt sie sich. Schon heute ist sie mit 27 Mitgliedern fast unregierbar. Aber das ist nicht ihr einziges Problem. Mit einem gemeinsamen Markt, einer gemeinsamen Währung und einer zunehmend verzahnten Innen- und Außenpolitik inklusive eigener Truppen ist sie zu einem Beinahe-Staat geworden.

Hinter dem werden die Bürger nur stehen, wenn sie wissen, was das eigentlich für ein Gebilde ist, in dem sie da leben. Und für das sie als Soldaten vielleicht sogar eines Tages sterben sollen. Die EU hat sich zu weit entwickelt und dringt zu weit ins tägliche Leben der Menschen ein, als dass sie sich den Luxus einer beliebigen Ausdehnung noch leisten könnte. Eine EU bis in den Kaukasus oder noch weiter könnte eine Union sein, in der sich kaum noch einer zu Hause fühlt und darum wieder die Wärme des heimischen Herdes, sprich des Nationalstaates sucht.

Die EU muss sich aber auch deswegen geographische Grenzen geben, weil sie nur so ihr Gewicht auf der Weltbühne zum Tragen bringen kann. Nur eine EU, die ihre politischen, wirtschaftlichen und militärischen Kräfte bündelt und für die anderen Spieler auf dem globalen Theater klar erkennbar und kalkulierbar ist, wird Eindruck hinterlassen und Einfluss bekommen. Die EU braucht also Grenzen. Um ihrer selbst willen.

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CONTRA: Alois Berger

Die Stärke der EU ist ihre Ausstrahlung

berger21.jpgDer Autor ist freier Journalist in Brüssel.

Die EU kann nicht einfach die Tür zu machen. 32 Jahre lang hat sich die EU vorwiegend um sich selbst gekümmert, hat Butterberge aufgetürmt, Milchseen angelegt und mit Getreideüberschüssen die Bauern in der Dritten Welt nieder gedumpt. Ein politischer Zwerg, der seine wirtschaftliche Kraft nicht gerade zum Wohle der Menschheit einsetzte. Dann fiel die Berliner Mauer und aus dem Zwerg wurde der Stabilitätsanker für Europa. Nicht freiwillig, sondern aus Angst vor politisch instabilen Nachbarn.

Die Erweiterung der Union nach 1989 war das erfolgreichste außenpolitische Projekt der EU. Zehn ehemalige kommunistische Diktaturen wurden fast geräuschlos in zuverlässige Demokratien umgewandelt. Die Aussicht auf den EU-Beitritt hat die Länder diszipliniert, unter dem Druck aus Brüssel haben sie ihre anfangs gefährlich schwelenden Nationalitätenkonflikte beigelegt.

Das Gegenbeispiel ist der westliche Balkan. Die EU schätzte Jugoslawien 1990 als weniger gefährlich ein, als bereits halb-westliches Land, das den Übergang zu  Demokratie und Marktwirtschaft alleine bewältigen würde. Erst als es zu spät war, als Krieg und Vertreibung nicht mehr aufzuhalten waren, stellte die EU auch den Bürgern Ex-Jugoslawiens überstürzt die Mitgliedschaft in Aussicht.

Die Stärke der Europäischen Union ist ihre Ausstrahlung nach außen, die Sehnsucht der Nachbarn, dazuzugehören. Das heißt nicht, dass die EU jedes Land aufnehmen muss. Ob die Türkei jemals EU-Mitglied wird, ist längst nicht ausgemacht. Doch seit die Türkei eine echte Chance sieht, hat sich das Land stärker reformiert als jemals zuvor.

Auch in der Ukraine, in Moldawien, in Georgien hängt die Reformbereitschaft der Bürger wesentlich davon ab, ob sie ihre Zukunft in Europa sehen. Politische Stabilität in Europa, das ist die wichtigste Aufgabe der EU. Schon deshalb darf sie die Tür nicht einfach verschließen.


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