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PRO: 2. Runde Joachim Fritz-Vannahme

"Schade um den Verfassungsvertrag!"

In welcher Verfassung ist die Europäische Union? Die Frage erinnert an den uralten Sinn des Wortes: Verfassung, Konstitution im medizinischen Sinne. In den meisten Zuschriften fällt die Diagnose eindeutig aus: Europa ist in keiner guten Verfassung.

Schuld sind Politiker und Eurokraten. So der gängige Vorwurf vieler Zuhörer. Schuld ist aber auch die Unkenntnis darüber, wie dieser Verfassungsvertrag eigentlich zustande kam und was er bewirken sollte.

Der Verfassungsvertrag wurde, auch wenn viele Zuschriften das nahe legen, weder von Eurokraten erzwungen noch von Europaparlamentariern erarbeitet. Sondern in einem Konvent erstritten, in dem nationale Parlamentarier auf nationale Regierungsvertreter und die wiederum auf Repräsentanten der europäischen Institutionen prallten - und hernach rund 100 ( ... ) lesbare Seiten ablieferten. Überarbeitet und aufgebläht auf über 400 schwer verständliche Seiten wurde das Werk hinterher allerdings durch die Regierungen.

Abgelehnt wurde das Ganze von Franzosen und Niederländern; angenommen hingegen von Spaniern und Luxemburgern. Also hat nicht "der Bürger" den Vertrag verworfen. Sondern zwei Völker taten dies, die damit das parlamentarische Ja in achtzehn anderen Mitgliedsstaaten zu Makulatur werden ließen. In genau dieser Verfassung ist Europa heute.

Damit lässt sich zwar leben, aber nicht sinnvoll arbeiten. Und so streiten die Regierungschefs jetzt über einen rein institutionellen Mini-Vertrag, Schwundstufe des Verfassungsvertrags. Die EU wird noch lange ohne Verfassung leben müssen (dürfen, jauchzen die Skeptiker ... ). Genau wie das Vereinigte Königreich. Ohne Verfassung im Wortsinn leben übrigens auch die Schweden oder wir Deutsche mit unserem Grundgesetz - das Volk übrigens hat nie darüber abgestimmt.

Ohne verbindliche Regeln arbeitet die EU darum freilich noch lange nicht. Schließlich war sie von Beginn an ein einzigartiges Rechtssystem jenseits des Nationalstaates. Das wird jetzt ausgebessert, hoffentlich.

Mehr "Wir" ist in "der" Gemeinschaft derzeit nicht zu haben. Darum: Schade um den Verfassungsvertrag!

Thesen 1. Runde: Braucht die EU eine Verfassung?

Vannahme21_01.jpgDer Autor arbeitet seit 1988 für die "Zeit". Von Januar 2007 an leitet er das Themenfeld Europa bei der Bertelsmann Stiftung in Gütersloh. Foto: Die Zeit
CONTRA: 2. Runde Roger Köppel

"Ein europäisches Demos existiert nicht"

Aus Sicht der meisten Blogger sollte sich die EU zu einem Bundesstaat entwickeln. Sie bejahen, grundsätzlich, die Notwendigkeit eines verfassungsähnlichen Ordnungsrahmens für die Union. Zugleich wird der gegenwärtige Rückfall ins nationale Denken bedauert. Viele Blogger plädieren für eine gemeinsame europäische Identität, die eine Voraussetzung sein könnte für einen EU-Bundesstaat. Es fragt sich, ob diese Ambitionen realistisch und wünschbar sind.

Demokratien werden von unten gebaut. Zuerst ist das Volk, dann gibt sich das Volk eine Regierung. In der EU verhält es sich bis dato umgekehrt. Treiber der "Unifizierung" (Vaclav Klaus) sind die Regierungen. Die Demokratie soll von oben gebaut werden. Ein europäisches Demos existiert nicht. Die Folgen sind aus rechtsstaatlicher Sicht haarsträubend: Die Gewaltentrennung ist ausgehebelt, die Exekutiven werden auf Kosten der nationalen Parlamente und Wähler gestärkt. Der deutsche Bundestag darf von der Regierung in "wichtigen außen- und/oder integrationspolitischen Fragen" ausdrücklich überstimmt werden. Das Parlament wird zur bloßen Quasselbude herabgewürdigt.

Könnte dieser Konstruktionsfehler unterbunden werden, wenn Europa zu einem Bundesstaat wird? Würde eine noch weitergehende Zentralisierung und Vereinigung die EU aus ihren inneren Widersprüchen befreien? Es ist zu bezweifeln. Real existierende Staaten sind Gebietskörperschaften mit einer Bevölkerung, die sich als Subjekt ihrer Gesetzgebung versteht. Eine gewaltlose Vereinigung der Europäer zu einem europäischen Staatsbürgervolk ist nicht in Sicht. Man mag es bedauern, aber es ist so: Die EU wird heute faktisch als Agentur zur Durchsetzung nationaler Interessen verwendet. In basarähnlichen, unüberschaubaren Verfahren werden Gesetzespakete geschnürt. Das Volk kann bei Bedarf beigezogen werden. Das ist ein Irrweg.

Ich sehe eine Lösung in einer Rückkehr zu eher föderalen Strukturen mit einem Europa starker Vaterländer. Die wirtschaftliche Öffnung würde es möglich machen, dass die EU, wie einst das Römische Reich, offen sein könnte für die Türkei und die Länder des Mittelmeerbeckens.

 Thesen 1. Runde: Braucht die EU eine Verfassung?

koeppel21_01.jpgDer Autor ist Chefredakteur und Verleger der Schweizer Wochenzeitung "Die Weltwoche".

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Religion (0) Uwe Köhler , 28.01.2010 - 16.21 Uhr
Haben wir eine Europa-Wahl? (0) stefano (Pseudonym), 30.08.2008 - 17.11 Uhr
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