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PRO: 2. Runde Theo Geers

Gut für die Bürger: Eine EU, die sich schützend vor den Markt stellt

Ein soziales Europa - wer will das nicht? Schließlich gilt: Je spürbarer dieses Europa im Alltag ist - und sei es im eigenen Portemonnaie -, desto größer seine Akzeptanz. Soweit die Theorie. Tatsächlich glauben viele, Europa im Alltag und im Portemonnaie zu verspüren, aber leider oft in unangenehmer Form. Der Mensch gerate "in Brüssel" in den Hintergrund, was zähle, seien nur wirtschaftliche Interessen, so lauten die Vorwürfe.

Solche Glaubenssätze werden durch Wiederholung leider nicht wahrer. Denn so einfach ist die Welt nicht zu erklären. Wer Verdrängungswettbewerb, Lohndruck, den Abbau sozialer Leistungen oder so genannter bewährter Strukturen allein "Brüssel" in die Schuhe schieben möchte, liegt falsch. Denn ob mit oder ohne EU: Am Ende muss es immer jemanden geben, der einen Arbeitsplatz, einen Tariflohn, eine Sozialleistung oder Subventionen zum Beispiel für den kommunalen öffentlichen Nahverkehr bezahlt. Damit hat "Brüssel" aber oft gar nichts zu tun.

Dabei hat die EU durchaus Möglichkeiten, für angenehme Erfahrungen im Alltag und im Portemonnaie zu sorgen - und zwar oft dann, wenn sich "Brüssel" zuvor für den freien Wettbewerb in die Bresche geworfen hat. Davon profitieren zum Beispiel alle, die heute deutlich billiger telefonieren und im Internet surfen können als noch vor einigen Jahren. Von einer EU, die sich schützend vor den Markt stellt, haben die Bürger im Zweifel weit mehr als von einer Union, die manche gerne als Auffangnetz von Globalisierungsfolgen sähen.

Thesen 1. Runde: Wen schützt die EU - Märkte oder Menschen?

geers21_01.jpgDer ehemalige Brüssel-Korrespondent des Deutschlandfunk ist heute Leiter der Wirtschaftsredaktion des Kölner Informationssenders.
CONTRA: 2. Runde Petra Pinzler

"Europa symbolisiert für viele den sozialen Kahlschlag"

Gewaltiges Misstrauen: Das verbindet viele Blogger des Deutschlandfunk, wenn sie an die Europäische Union denken. Die Liste ihrer Vorwürfe ist lang. Mangelnde Transparenz, Demokratiedefizit, Bürokratie und so weiter und so fort. Eine Sorge scheint indes ganz besonders viele zu bewegen, einer beschreibt sie so: "Die EU dient vorrangig den Kapitalinteressen und nicht den Menschen."

Der Vorwurf ist hart. Und doch trifft er einen wunden Punkt, kann also nicht so einfach als typisch linke Nörgelei abgetan werden. Schließlich verliert Europa inzwischen auch bei der schweigenden Mehrheit in Deutschland an Sympathie. Einer der Gründe ist dabei ganz sicher das mangelnde Interesse der EU an den Alltagssorgen der Menschen.

Bis heute hat die Union es nicht geschafft, vom Bürger als schützendes Trainingscamp für die Globalisierung empfunden zu werden. Im Gegenteil: Europa symbolisiert für viele eher den sozialen Kahlschlag: "Reform heißt Kappungen auf ein gleiches niedriges Niveau in allen Mitgliedsstaaten", heißt es in einem Blog, andere klingen ähnlich. Und oft folgt dann die enttäuschte Zusatzfrage: "Welchen Einfluss haben denn die einfachen Bürger?"

Bei so viel EU-Frust muss ich dann doch schlucken. Natürlich ist es erfreulich, dass so viele DLF-Hörer die Fehler der EU offensichtlich ähnlich sehen wie ich: Europa kümmert sich nicht genug um soziale Fragen, und das muss sich ändern. Da sind wir uns einig. Doch zugleich entsetzt mich der Pessimismus. Ein bisschen mehr Mumm und Zuversicht bitte!

Denn die Bürger können die EU verändern, wenn sie denn ordentlich Dampf machen. Nach fünf Jahren Arbeit in Brüssel bin ich davon mehr denn je überzeugt. Das haben nicht nur die französischen und niederländischen Bürger mit ihrem Nein zur Verfassung bewiesen. Das zeigten auch die Debatten um die Dienstleistungsrichtlinie, um die Verfassung, um Europas künftige Rolle im Klimaschutz. Am Zustand Europas sind also nicht nur die Eurokraten oder die Politiker schuld. Ein gewisse satte Langweile, ein larmoyantes "da können wir eh nix ändern" vieler Bürger tut ein Übriges. Wenn die nichts fordern, warum sollen die Politiker die EU dann - von Krise zu Krise - weiter entwickeln?

Genug der Publikumsbeschimpfung, denn eigentlich hat mir Diskussion viel Spaß gemacht. Stattdessen lieber ein Wunsch: Bitte, bitte die Debatten über die EU nach der deutschen Ratspräsidentschaft nicht einstellen. Europa braucht unseren Streit - und ist ihn wert.

Thesen 1. Runde: Wen schützt die EU - Märkte oder Menschen?

pinzler21_01.jpgDie Autorin ist Korrespondentin der Wochenzeitung "Die Zeit" in Brüssel.

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Kommentare lesen (54)

Markt = Macht (0) Uwe Köhler , 27.01.2010 - 13.38 Uhr
Union der Brüsseler... (0) Waskow (Pseudonym), 17.01.2008 - 08.12 Uhr
Offiziell (2) Waskow (Pseudonym), 18.12.2007 - 08.21 Uhr

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